"Das ist das Glück des Lebens", sagt Egon Bahr über die Möglichkeit, "wirklich etwas bewegen" zu können. Der Sozialdemokrat gilt als Architekt der bundesdeutschen Ostpolitik, die er zusammen mit seinem Parteifreund Willy Brandt entwickelt hat. Im Kalten Krieg ist Bahr als Abgesandter von Bundeskanzler Brandt zwischen den Fronten unterwegs - Pendeldiplomatie zwischen der Bundeshauptstadt Bonn, Ost-Berlin, Warschau, Moskau und Washington. Die beiden verbindet eine Art Symbiose, sagt Bahr-Biograf Jörg Hafkemeyer. Als Brandt 1971 "erfahren hat, dass er den Friedensnobelpreis kriegt, hat er Egon Bahr gesagt: Du kommst mit, die Hälfte gehört Dir."
Geboren wird Bahr am 18. Februar 1922 im thüringischen Treffurt. Sein Vater wird während der Nazi-Zeit aus dem Schuldienst entlassen, weil er sich nicht von seiner Frau, deren Mutter Jüdin ist, trennen will. Bahr will in Berlin Musik studieren, was ihm die Nationalsozialisten aber verwehren. Trotzdem zieht er für sie in den Krieg: "1943 habe ich mich freiwillig gemeldet", sagt Bahr später. "Und zwar einfach deshalb, weil ich gedacht habe, du kannst dich zur Luftwaffe melden, dann brauchst du nicht zu laufen." Nach dem Zweiten Weltkrieg fängt er als Journalist bei der "Berliner Zeitung" an, später arbeitet er für den RIAS, den Rundfunk im amerikanischen Sektor in Berlin.
"Tricky-Egon"
1960 wird Bahr, der damals im vierten Jahr SPD-Mitglied ist, von Berlins Regierendem Bürgermeister Brandt zum Senatssprecher gemacht. Damit beginnt Bahrs politische Karriere: "Die erste Bewährungsprobe kam 1961 mit dem Bau der Mauer. Das war schrecklich." Er und Brandt wollen weg von der Ost-West-Konfrontation, suchen nach politischen Lösungen wie dem Passierscheinabkommen für Westberliner: "Wir haben ja dann angefangen, die Politik der kleinen Schritte zu entwickeln, weil niemand die Mauer wegbringen konnte", so Bahr. Er prägt 1963 die Formel "Wandel durch Annäherung".
Brandt wird 1966 Außenminister der ersten Großen Koalition von Union und SPD. Ab 1969 kann er als Bundeskanzler einer sozialliberalen Koalition seine Vorstellungen der Entspannungspolitik verwirklichen. Bahr ist Brandts gewiefter Sonderbotschafter, dem auch fragwürdige Methoden und Kanäle recht sind. Daher auch der Spitzname "Tricky-Egon", sagt Journalist Hafkemeyer. "Die Russen haben ihm vertraut, und er hat den Russen vertraut." Bahr ist der bescheidene Stratege im Hintergrund, Kanzler Brandt gehört die große Bühne. Bahr führt im Vorfeld alle wichtigen Gespräche. Für Hafkemeyer ist er "der erste Mann in der zweiten Reihe".
Fall der Mauer erfüllt Lebensziel
Für Bahr-Biograf Hafkemeyer endet mit dem Rücktritt von Brandt im Mai 1974 auch Bahrs Karriere. Danach ist er noch zwei Jahre lang Entwicklungshilfeminister unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD). Bahrs politisches Lebensziel erfüllt sich dennoch überraschend, als am 9. November 1989 die Mauer fällt: "Ich war Mitte der 80er Jahre so gut wie sicher, dass ich das nicht mehr erleben würde."
Brandt ruft umgehend den alten Weggefährten an: "Weißt Du, was los ist? Ja. Staunste, was? Ja. Hättste nicht gedacht? Nee!", erinnert sich Bahr an das Gespräch. Einen Tag später stehen Bahr und Brandt an der Seite von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) auf dem Balkon ihres ehemaligen Schöneberger Rathauses in Berlin. Gemeinsam singen sie die Nationalhymne - gestört durch ein Pfeifkonzert aus der versammelten Menge.
Stand: 18.03.2012
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