Die "Geistreichen" hätten einen mageren Hals, ein schmales Gesicht mit glanzvollen Augen, dazu fleckenlose, feine weißrötliche Haut. Das schreibt Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr. Man erkenne die Geistesstärke eines Menschen an seinen Gesichtszügen, heißt es in seiner "Physiognomik", und die "Dummen" an großen Kinnbacken, einer fleischigen Stirn und einem ausdruckslosen Gesicht. Obwohl der Verstand den Menschen so sehr von allen anderen Geschöpfen unterscheidet, entzog er sich lange Zeit jeder Vermessung.
Worin ähneln sich Fliege und Schmetterling?
Chinesen, die um 1100 v. Chr. für ihren Kaiser arbeiten wollen, müssen sich in einem Talentwettbewerb beweisen, im Reiten, Bogenschießen, Musizieren, Schreiben und Rechnen. Die Mediziner des 19. Jahrhunderts glauben, den Verstand mit naturwissenschaftlichen Methoden fassen zu können: Je größer die Gehirnmasse, desto größer seien Verstand und Charakter. Der deutsche Arzt Franz Joseph Gall vermisst 300 Schädel auf den Millimeter genau und begründet die Phrenologie, die Schädellehre. Im Schnitt sind die von ihm untersuchten Gehirne 1.400 Gramm schwer, sein eigenes, nach dem Tod vermessen, wiegt 1.198 Gramm. Der französische Psychologe Alfred Binet ist der Erste, der 1905 das Denkvermögen von Kindern anhand eines Fragenkatalogs testet. Je nach Alter stellt er Kindern in seinem Arbeitszimmer an der Pariser Universität Fragen, zum Beispiel: Was reimt sich auf Pferd? Bilde einen Satz mit Paris, Fluss und Glück. Worin ähneln sich Fliege und Schmetterling? Die letzte Frage wird im Laufe der Testentwicklung wieder gestrichen. Binet wird klar, dass sie nur Kinder reicher Familien beantworten können. Sie fahren in den Ferien aufs Land und sehen Schmetterlinge; Arbeiterkinder aus der Stadt kennen sie nicht.
IQ zwischen 85 und 115 ist Durchschnitt
Der deutsche Psychologe William Stern kennt und befürwortet die Tests von Binet, schlägt aber am 19. April 1912 eine neue Berechnung vor. Binet hatte zwölf Fragenkomplexe für Kinder im Alter von drei bis 15 Jahren entwickelt, die für eine bestimmte geistige Reife stehen. Wenn ein Kind beispielsweise sieben Jahre alt ist, aber bereits die Fragen für Achtjährige beantworten kann, hat es ein Intelligenzalter von acht Jahren. Stern findet diese Auswertung zu schematisch und verzerrend. Er dividiert das Intelligenzalter durch die Anzahl der realen Lebensjahre und erfindet mit der Formel den Intelligenzquotienten, den IQ. Forscher, die auf seine Lehre aufbauen, multiplizieren den Quotienten später mit 100, um ganzen Zahlen zu erhalten. Eine Beispielrechnung: Ein fünfjähriges Kind löst die Fragen für Sechsjährige. Das Intelligenzalter 6 geteilt durch das Lebensalter 5, mal 100 – das Kind hat einen IQ von 120, ist also überdurchschnittlich intelligent. Wenn ein Zehnjähriger jedoch die Aufgaben der Elfjährigen lösen kann, hat er nur einen IQ von 110. Nach Sterns Formel sinkt der IQ beständig, weil das Intelligenzalter langsamer zunimmt als das Lebensalter. Wessen geistiges Alter genau dem Lebensalter entspricht, verfügt über einen IQ von 100. Hat jemand einen IQ von unter 70, gilt er als geistig behindert, bei einem IQ ab 130 als hochbegabt. Die meisten Menschen, knapp 70 Prozent, verfügen über einen IQ zwischen 85 und 115.
Amerikaner ermitteln IQ von Einwanderern und Soldaten
Psychologen, vor allem in den USA, glauben nun, mithilfe einer einzigen Zahl die Geistesstärke der Menschen vergleichen zu können - unabhängig vom Alter. Der IQ sämtlicher Einwanderer wird ermittelt, und 1917 vor dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg auch der IQ von 1.726.966 Soldaten. William Stern betrachtet die Euphoriewelle um seine Entwicklung stets skeptisch. Er sieht im IQ nur eine Annäherung an das, was eine Person ausmacht. "Intelligenz ist die allgemeine Fähigkeit eines Individuums, sein Denken bewusst auf neue Forderungen einzustellen; sie ist allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens", schreibt er 1912. Ob er jemals seinen Intelligenzquotienten ermittelt hat, ist nicht bekannt. Für ihn ist der IQ nur eine Zahl und wie bei jeder Rechnung hält er Fehler für möglich: "Mathematisch sichere Prognosen gibt es im Menschenleben überhaupt nicht."
Stand: 19.04.2012
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