Tschechoslowakei, Januar 1968: An der Spitze der kommunistischen Partei in Prag gibt es Streit. Der stalinistische Parteichef, Antonín Novotný, und sein autoritäres Regime sind umstritten. Ein bislang unscheinbarer Funktionär hat bereits dessen Rücktritt gefordert: Alexander Dubček. Er setzt sich für einen Neuanfang ein und erhält Rückendeckung vom "großen Bruder" aus Moskau, von KPdSU-Chef Leonid Breschnew. "Er hatte ein gutes Verhältnis zu Dubček als Person", sagt Historiker Stefan Wolle über Breschnew. Er habe in Dubček zu Recht auch einen Freund der Sowjetunion gesehen.
Der am 27. November 1921 in der Westslowakei geborene Dubček hat seine Kindheit in der Sowjetunion verbracht. "Er sprach also russisch genauso gut wie seine slowakische Muttersprache und tschechisch", so Wolle. Schon Dubčeks Vater war überzeugter Kommunist, der die tschechoslowakische KP mitbegründet hat. Am 6. Januar 1968 wird der gelernte Maschinenschlosser Dubček zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei gewählt.
"Sozialismus mit menschlichem Antlitz"
Der sogenannte Prager Frühling beginnt - doch anders, als es sich Breschnew offenbar gedacht hat: Dubček will einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" schaffen. Er kündigt eine grundlegende Demokratisierung der Gesellschaft an. Es soll offen gesprochen werden über sozialistische Misswirtschaft, Korruption in den Ämtern und Verbrechen des Stalinismus. Die Tschechen und Slowaken sind schnell von Dubček begeistert. Die Führungsspitzen der kommunistischen Bruderländer hingegen sehen in seinen Reformen eine Form der Konterrevolution. Sie reagieren mit heftiger Kritik oder wie Walter Ulbricht mit Spott. Über die Abschaffung der Pressezensur in der Tschechoslowakei gibt sich der damalige Staatsratsvorsitzende der DDR erstaunt: "Wir haben nie eine Pressezensur gehabt."
Schon am 20. August 1968 ist der Frühling in Prag vorbei: Um 23 Uhr überschreiten die Armeen der Sowjetunion, Polens, der DDR, Ungarns und Bulgariens die Staatsgrenzen der Tschechoslowakei. Von Anfang an setzt Dubček angesichts der Übermacht auf passiven Widerstand. "Unsere einzige Chance war der moralische Sieg", sagt er später. Dennoch werden rund 100 Menschen getötet. Dubček wird zunächst nach Moskau verschleppt, wo er sich von seinen Reform-Ideen distanzieren muss, dann wird er kalt gestellt. Er wird zwar vorübergehend zum Botschafter in der Türkei ernannt, doch anschließend muss als Waldarbeiter in der slowakischen Provinz sein Lebensunterhalt verdienen.
Rätselhafter Autounfall
Rund 20 Jahre später hat Dubček ein Comeback. Die sogenannte Samtene Revolution von 1989 macht ihn zum Präsidenten des Bundesparlaments. Sein politischer Einfluss aber bleibt gering. Die Rolle des Staatspräsidenten übernimmt einen Tag später der Bürgerrechtler Václav Havel. Die Mehrheit der Tschechen und Slowaken will nicht mehr Dubčeks Weg gehen und den Sozialismus reformieren. Die junge Generation verspricht sich vom westlichen Kapitalismus mehr als vom alten System.
Am 1. September 1992 kommt Dubčeks Dienstwagen zwischen den Städten Brünn und Prag auf halber Strecke von der Fahrbahn ab. Während sein Fahrer weitgehend unverletzt bleibt, erleidet der Politiker einen Becken- und Rückgratbruch. Ungeklärt ist, ob der Unfall nur auf Aquaplaning zurückzuführen ist. Warum ist die Aktentasche von Dubček verschwunden? Enthielt sie tatsächlich brisante Dokumente über die Rolle des KGB bei der Niederschlagung des Prager Frühlings? War es womöglich ein Anschlag? Viele Fragen bleiben offen. Fünf Wochen später stirbt Dubček am 7. November 1992 in Prag an den Folgen seiner Verletzungen - ausgerechnet am 75. Jahrestag der Russischen Oktoberrevolution.
Stand: 07.11.2012
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