"Armut ist stumm, tabuisiert und wehrlos", heißt es im Vorwort des ersten gesamtdeutschen Armutsberichts. Er wird am 20. Januar 1994 vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und dem Deutschen Gewerkschaftsbund vorgestellt. Die Studie, beide Organisationen finanziert haben, trägt den Titel "Armut in Deutschland" und umfasst 450 Seiten. Wissenschaftlicher Leiter des Projekts ist Professor Walter Hanesch von der Hochschule Darmstadt: "Es ging uns ganz stark darum zu untersuchen, wie wirkt sich die Wiedervereinigung aus auf die Lebensbedingungen der Menschen." Dabei sei es um die "Lebenslagen in der Bevölkerung" gegangen. Nicht nur die Einkommensverhältnisse seien Thema gewesen, sondern auch die Situation bei Bildung, Arbeitsmarkt, Gesundheit und Wohnen sowie die Wechselwirkung dieser Bereiche.
Um öffentlich wahrgenommen zu werden, ist der wissenschaftlich geschriebene Bericht als Taschenbuch erschienen. Innerhalb kürzester Zeit seien 18.000 Exemplare verkauft worden, so Hanesch. "Der Bericht hat in jedem Bahnhofskiosk ausgelegen."
"Neue Armut" entsteht
Nach der Wiedervereinigung sei viel von Teilen gesprochen worden, sagt Ulrich Schneider, Geschäftsführer beim Paritätischen Wohlfahrtsverband und einer der Autoren des Armutsberichts. Die Praxis habe allerdings schnell gezeigt, "dass hier anscheinend die Armen im Westdeutschland es waren, die mit den Armen in Ostdeutschland teilen sollten." Damals werden Einschnitte in das soziale Netz vorgenommen: Das Wohnungsgeld und das Erziehungsgeld werden gekürzt, die Arbeitslosenhilfe und die Mittel für Asylbewerber eingeschränkt. Als die Studie erscheint, sind mehr als vier Millionen Menschen auf Sozialhilfe angewiesen, davon sind eine Million Kinder.
Zu Beginn der 1990er Jahre taucht der Begriff "neue Armut" auf. Betroffen davon sind neben Langzeitarbeitslosen und Frauen vor allem Alleinerziehende, Kinder und Jugendliche. Es handelt sich zum großen Teil um sogenannte relative Armut. "Armut in einer so reichen Gesellschaft wie der unseren bedeutet, dass man sich das nicht leisten kann, was in dieser Gesellschaft als normal gilt", sagt Professor Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler an der Universität Köln. Armut bedeute in Deutschland meistens nicht "absolute Armut im Sinne von Existenznöten".
Arm trotz Arbeit
Die "neue Armut" ist nur der Vorbote für die erst später aufkommende Massenarbeitslosigkeit in Deutschland. "Ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre hat dann ein enormer Anstieg des Armutsproblems in Gesamtdeutschland eingesetzt", sagt Wissenschaftler Hanesch. "Im Grunde genommen hat dieser Anstieg bis heute nicht aufgehört."
Jüngste Zahlen dazu liefert der "Datenreport 2013", den das Statistische Bundesamt zusammen mit Sozialforschern veröffentlicht hat. Obwohl der Arbeitsmarkt mit 42 Millionen Erwerbstätigen boomt, sind immer mehr Menschen von Armut betroffen. So ist zum Beispiel die Zahl der sogenannten Aufstocker gestiegen. Das sind Menschen, die von ihrer Arbeit alleine nicht leben können und deshalb ihr geringes Erwerbseinkommen mit staatlichen Leistungen aufstocken müssen.
Stand: 20.01.2014
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 20. Januar 2014 ebenfalls an den ersten gesamtdeutschen Armutsbericht. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.