SS-Obersturmführer Kurt Gerstein wird am 25. Juli 1945 in einer Einzelzelle des Pariser Militärgefängnisses Cherche-Midi erhängt aufgefunden. Sechs Tage zuvor hat ein Richter eine formelle Anklage gegen ihn verfasst, weil Gerstein "unmittelbar oder mittelbar an der Ermordung zahlreicher Deportierter in Deutschland teilgenommen hatte, indem er 260 Kilo Zyankali lieferte, dazu bestimmt, die Opfer in Gaskammern ersticken zu lassen."
Als Verantwortlicher für die Erprobung des Giftgases "Zyklon B" ist Gerstein im August 1942 Zeuge von Massenvergasungen in den Konzentrationslagern Belzec und Treblinka: "Wie Basaltsäulen stehen die Toten noch aufrecht, weil es nicht den geringsten Platz gibt, umzufallen oder sich zu neigen. Noch im Tod erkennt man die Familien, die sich an der Hand halten."
Auf der Rückreise nach Berlin erzählt er dem schwedischen Diplomaten Göran von Otter, den er zufällig im Zug trifft, von seinen grauenvollen Erfahrungen - doch ohne offizielle Reaktion. Wenige Tage später informiert er Bischof Otto Dibelius und andere Freunde aus der Bekennenden Kirche. In der Päpstlichen Nuntiatur in Berlin wird er abgewiesen, als er versucht, auch Papst Pius XII. in Rom zu informieren. Der Dramatiker Rolf Hochhuth hat diese Begebenheit in seinem Theaterstück "Der Stellvertreter" verarbeitet.
Bis zum Schluss auf todbringendem Posten
Gersteins Rolle ist umstritten: Für die einen ist er ein einsamer Widerstandskämpfer mit Zivilcourage, für die anderen ist er ein naiver Christ, der bis zum Schluss auf seinem todbringenden Posten verbleibt. Geboren wird Kurt Gerstein am 11. August 1905 in Münster. Er schließt sich der protestantischen Jugendbewegung, Bibelkreisen und dem Christlichen Verein Junger Männer (CVJM) an. 1931 beendet er sein Studium als Diplom-Ingenieur. 1933 tritt Gerstein in die NSDAP ein. Ein Jahre später schließt er sich der Bekennenden Kirche an. Wegen wiederholter öffentlicher Proteste wird er zweimal von der Gestapo verhaftet, für ein paar Wochen ins KZ Welzheim gesteckt und aus der NSDAP ausgeschlossen. Das Verfahren wegen Hochverrats wird jedoch eingestellt.
"Spion Gottes"
1940 hat Kurt Gerstein ein einschneidendes Erlebnis: Seine Schwägerin wird in Hadamar als Geisteskranke vergast. Im Jahr darauf tritt Gerstein freiwillig in die Waffen-SS ein, um - wie er später sagt - detaillierte Kenntnissse über die Mordaktionen der Euthanasie zu bekommen. Seine Absicht: "Die ganze Maschinerie sehen und dann: vor allen Leuten hinausschreien!" Als Chef der Abteilung Gesundheitstechnik des Hygiene-Instituts ist er für die Beschaffung von "Zyklon B" zuständig, das hauptsächlich in Auschwitz verwendet wird.
1943 verfasst der "Spion Gottes" - wie ihn sein Biograph Pierre Joffroy nennt - einen Bericht und lässt ihn von Freunden im holländischen Widerstand nach London schmuggeln. Auch diese Mitteilung bleibt ohne spürbare Reaktion. Im April 1945 stellt sich Gerstein den französischen Truppen und verfasst einen detaillierten Zeugenbericht über die Vergasungsaktionen. Er will sich den Alliierten als Kronzeuge beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zur Verfügung stellen. Als auch ein Verfahren gegen ihn vorbereitet wird, bringt sich Gerstein um.
Stand: 25.07.05