Im Herbst 1814 rücken rund 300 Diplomaten-Trosse aus ganz Europa in Wien an - mit Dienern, Köchen, Mätressen. Die Einwohnerzahl der Stadt steigt um etwa 100.000. Der Anlass: Bei der Völkerschlacht bei Leipzig ist Kaiser Napoleon endgültig besiegt worden. Seit seiner Entmachtung lebt er auf der Insel Elba im Exil. Da sich Frankreich aus allen besetzten Gebieten zurückgezogen hat, herrscht ein Machtvakuum. Deshalb wollen die Siegermächte Europa nun neu aufteilen - bei einem Kongress in Wien. Wochenlange Vorverhandlungen sind nötig. Denn zur offiziellen Eröffnung, geplant für den 1. November 1814, soll eine Geschäftsordnung vorliegen.
Die Monarchen sprechen allerdings nicht direkt miteinander, sondern überlassen das ihren Diplomaten. Auch die Vertreter der Kleinstaaten nehmen nicht an den Gesprächen teil, da sie zu den Diskussionen in den Kommissionen nicht zugelassen sind. Um diese Menschen zu beschäftigen, werden Feste organisiert. Die Liste der Vergnügungen ist lang. Neben Feuerwerken, Militärparaden, Wildschweinjagden und Schlachtfeldbesichtigungen gibt es Festmähler, Galakonzerte und Maskenbälle. Den österreichischen Staat habe das ruiniert, sagt Historiker Thierry Lentz. "Denn er hat all die Feierlichkeiten bezahlt."
Napoleons Rückkehr bleibt ohne Folgen
Schließlich ist es soweit: Zwei Tage später als angekündigt wird unter der Leitung des Gastgebers, dem österreichischen Staatskanzler Fürst von Metternich, der Kongress eröffnet. Die Uhren sollen auf die Zeit vor der Französischen Revolution zurückgestellt werden. Die Siegermächte aber sind gespalten. Österreich und England stehen Preußen und Russland gegenüber. Immer wieder steht der Wiener Kongress kurz vor dem Scheitern. Im Streit um Sachsen und Polen droht sogar ein neuer Krieg.
Im März 1815 geschieht das Undenkbare: Napoleon flieht von der Insel Elba und stellt ein neues Heer zusammen. Zwar schicken die Siegermächte ihre Armeen zurück ins Feld, aber ihre Bevollmächtigten bleiben in Wien am Verhandlungstisch. "Die Rückkehr Napoleons hat die Entscheidungen, die in Wien vorbereitet worden waren, nicht verändert", sagt Historiker Lentz. "Sie hat nur die Unterschrift unter die Schlussakte beschleunigt." Am 9. Juni 1815 unterzeichnen die Vertreter der tonangebenden Nationen. Neun Tage später verliert Napoleon die Schlacht bei Waterloo. Die Weichen für die Zukunft Europas sind gestellt.
Restauration sorgt für Stabilität
"Der Wiener Kongress ist der erste internationale Kongress, auf dem die Unterhändler Entscheidungen getroffen haben, die allgemeingültig waren und für alle Nationen galten", so Lentz. Dazu gehören die Neuordnung des diplomatischen Rechts, die Abschaffung des Sklavenhandels und die Neutralität der europäischen Flüsse im Kriegsfall. Das Wichtigste aber ist die Verpflichtung der Siegermächte England, Preußen, Österreich und Russland, in Zukunft enger zusammenzuarbeiten - gleichsam als eine Art Sicherheitsrat.
Der große Sieger des Kongresses ist England, sagt Experte Lentz. "England wollte eine Wiederherstellung des Gleichgewichts auf dem Kontinent, um mit allen Handel treiben zu können - und das hat es problemlos bekommen." Der zweite große Sieger sei Russland, das wie gefordert Polen bekommen habe und wie gewünscht endlich als ein europäisches Land angesehen wurde. In Europa stehen die Zeichen fürs Erste auf Restauration: Demokraten und andere Störenfriede der königlichen Ruhe werden geknebelt. Dafür beschert der Wiener Kongress den Europäern ein halbes Jahrhundert Frieden. Die Idee des "europäischen Konzerts" - des Vorrechts der Großen, über das Schicksal der Kleinen zu bestimmen - schafft Stabilität. Weitere 50 Jahre bleibt es bei regional begrenzten Auseinandersetzungen - bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914.
Stand: 01.11.2014
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