Gleich vorweg: Zum "Jahrhundertspiel" wird dieses WM-Halbfinale erst, als es eigentlich schon vorbei ist. Die deutsche Elf war noch gar nicht richtig auf dem Rasen des Aztekenstadions in Mexiko angekommen, da erzielte Domenghini bereits die Führung der Italiener. Kaum etwas klappt bei den Deutschen. Erst, als sich Italiens Fußball-Millionäre hinter ihrem berüchtigten Abwehrriegel verschanzen, kommt die Elf um Kapitän Uwe Seeler in Fahrt. Beide Seiten kämpfen bis zum Umfallen, reißen die 80.000 Zuschauer von den Sitzen.
Über 30 Mal schießen die Deutschen auf das italienische Tor, doch dann sind 90 Minuten vorüber. Aus und vorbei. Schiedsrichter Yamasaki greift schon zur Pfeife, als ausgerechnet Italien-Legionär Karl-Heinz Schnellinger eine Flanke von Jürgen Grabowski zum 1:1 verwandelt. Das Wunder hat sich ereignet. Verlängerung.
Vor deutschen Fernsehern bricht kollektiver Freudentaumel aus. Die ganze Nation schöpft Hoffnung: Jetzt packen wir sie wie die Engländer. Drei Tage zuvor hatte die Mannschaft von Bundestrainer Helmut Schön in einem nervenaufreibenden Viertelfinale England mit 3:2 besiegt – in der Verlängerung. Die ganze Welt war sich einig: So ein Spiel gab es noch nie. Und jetzt, urplötzlich, scheint eine Wiederholung des Triumphes zum Greifen nahe. Doch Fußball-Wunder erfordern Kondition. Die italienische Mannschaft konnte sich in den vergangenen Tagen erholen, die deutsche hat vor der Verlängerung zwei Kräfte raubende WM-Fights in den Knochen.
Franz Beckenbauer muss nach einem bösen Foul einarmig mit Schulterverband weiterspielen; Deutschland darf nicht mehr wechseln. Was dann passiert ist Fußballgeschichte, bis heute unübertroffen. Der SPD-Abgeordnete Hans Hermsdorf dokumentiert es, stellvertretend für Millionen, am nächsten Tag im Deutschen Bundestag mit dem Geständnis: "Ich bin vom Fußball völlig ruiniert." Der Nerven-Schocker von Mexico-City im Tor-Ticker: 95. Minute, Gerd Müller steht goldrichtig, 2:1 - 99. Minute, Burgnich bringt Italien zurück ins Spiel, 2:2 – 104. Minute, Maier steht zu weit vorm Tor, Riva erzielt das 2:3 – 110. Minute, 3:3, unglaublich, wieder durch Müller – 111. Minute, der K.O.-Schlag. Als Deutschland sich noch fassungslos vor Glück in den Armen liegt, schießt Rivera Italien endgültig mit 4:3 in die Führung und ins Finale. "Das war zu viel", keucht Bundestrainer Schön auf dem Weg in die Kabine. Vier Jahre später wird er Deutschland in München zum zweiten Weltmeistertitel führen.
Stand: 17.06.05