Ganz im Sinne der Branche
Warum der Autogipfel ein Mobilitätsgipfel sein sollte
Stand: 04.05.2020, 17:30 Uhr
Die Kanzlerin sorgt sich um den Auto-Absatz. Am Dienstag (5.5.20) will die Industrie Kaufprämien für ihre Ladenhüter durchdrücken. Wenn alte Geschäftsmodelle Geld in die Kasse spülen, wird die Chance zum Umdenken wieder vertragt, meint Martin Gent.
Von Martin Gent
Ja, in Deutschland hängen viele Arbeitsplätze vom Auto ab. Und ja, die deutsche Autoindustrie war im Krisenmodus, schon lange bevor das Coronavirus zuschlug. Sinkende Produktions- und Exportzahlen, Klimaschutz nur auf dem Papier aber kaum in der Praxis, digitale Konkurrenz ohne überzeugende Antworten deutscher Ingenieure. Die einstige Vorzeige-Branche hat mehr als ein Problem.
Nicht-Handeln ist keine Option
Eine Studie aus Baden-Württemberg von 2017 liest sich da aktueller denn je. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann wollte wissen, wie es mit dem Auto dort weitergehen kann, wo es erfunden wurde und das Land reich gemacht hat. Drei Szenarien haben die Experten auf fast 300 Seiten durchgerechnet. Ihre wichtigste Erkenntnis: Festhalten am Status-Quo ist keine Option. Die Idee, weiter auf Verkehrswachstum und mehr Autos zu setzen, erscheint als Idee von vorgestern.
Zu viel Geld fürs Autofahren
Die vielen Arbeitsplätze in der Autoindustrie haben eine Kehrseite. Wir pumpen enorme Summen Geld in ein System, das nach Ansicht vieler Experten wenig Zukunft hat. Erst jüngst zeigte eine Untersuchung, dass Autofahren viel teurer ist als die meisten Autofahrer denken. Es wäre noch teurer, wenn man fairerweise die Nebenwirkungen einpreisen würde, also wenn das Auto-System für Lärm, Unfälle, Luftverschmutzung und Klimabelastung in vollem Umfang selbst zahlen müsste. Wenn eine Gesellschaft viel Geld fürs Autofahren ausgibt, heißt das auch, dass sie so viele Arbeitsplätze finanziert. Aber sind das Arbeitsplätze mit Zukunft? Ist es wirklich intelligent, individuelle Mobilität vornehmlich als Mobilität in fetten Blechkarossen zu begreifen?
Viel weniger Autos und die elektrisch
Ein Auto das heute – egal ob mit oder ohne Prämie – verkauft wird, hält locker 15 Jahre, belastet also auch 2035 noch die Klima- und Umweltbilanz. Wegen dieses Verzugs muss zügig handeln, wer umsteuern will. Das ist in der Autobranche nicht anders als bei Corona.
Auch wenn die Klimabilanz von E-Autos beim derzeitigen Strommix noch nicht entscheidend besser ist, 2035 wird sie es sein. Also werden die Autos, die bleiben, aller Voraussicht nach elektrisch fahren müssen. Aber es werden nicht allzu viele Autos bleiben können. Unsere Massenmotorisierung ist kein Modell für die Welt, nicht einmal ein Modell für Baden-Württemberg. In der Studie von 2017 sinkt die Autodichte in zwei von drei Szenarios rapide. Gerechnet auf 1000 Einwohner parken in 30 Jahren nicht mehr 600 Autos die Städte zu, sondern nur noch 80 bis 200. Das reicht für clever organisierte Nahmobilität. Weil wir Mobilitätsbedürfnisse dann nicht mehr mit dem eigenen Auto bedienen, sondern von Plattformen organisieren lassen, die Angebote und Verkehrsmittel geschickt miteinander kombinieren.
Die Industrie kann's, wenn sie will
Die gute Nachricht ist, dass Experten es der Auto-Industrie zutrauen, hier zu punkten. Ellen Enkel, die Nachfolgerin von Auto-Professor Ferdinand Dudenhöffer an der Universität Duisburg-Essen, sagt, die deutschen Hersteller hätten locker die Ressourcen für die besten Mobilitätsplattformen. Sie blockierten sich aber selbst mit einem Denken aus einem anderen Zeitalter.
Weitergedacht heißt das: Wenn die Industrie es mit ihrer eigenen Zukunft ernst meint, dann schlägt sie der Kanzlerin selbst vor, aus dem Autogipfel einen Mobilitätsgipfel zu machen – und nimmt das Wort Kaufprämie erst gar nicht in den Mund.
Hier schreibt Martin Gent, Redakteur und Reporter in der WDR-Wissenschaftsredaktion QUARKS. Als Mobilitätsexperte ist er stets auf der Suche nach Perspektiven für den Verkehr von morgen. Der Kommentar lief in "WDR 5 - Der Nachmittag" am 4. Mai 2020.