Der lange Weg zum Arzneimittelgesetz
Hundert Jahre Gesetzeslücke
Stand: 24.11.2006, 06:00 Uhr
Das erste deutsche Arzneimittelgesetz wurde 1961 beschlossen. Am Contergan-Skandal hätte es damals aber nichts geändert. Die Lehren aus der Katastrophe zog der Gesetzgeber erst fünfzehn Jahre später.
Von Gregor Taxacher
Dass der Deutsche Bundestag mit seinem Arzneimittelgesetz auf die Katastrophe rund um Contergan reagierte, ist ein Mythos. Das Gesetz, das am 8. Februar 1961 verabschiedet wurde, hatte mit der Katastrophe nichts zu tun. Im November 1961 drang die Nachricht von den furchtbaren Wirkungen des Schlafmittels auf Embryos an die Öffentlichkeit und das Mittel verschwand vom Markt.
Das neue Gesetz hätte an diesem Skandal nichts geändert: Es regelte lediglich ein Registrierungsverfahren für neue Medikamente. Prüfungen zur Wirksamkeit und Sicherheit wurden der Industrie nicht verordnet. Ärztekammer und SPD-Opposition hatten ein Genehmigungsverfahren mit klinischen Studien gefordert. Außerdem sollten alle neuen Medikamente rezeptpflichtig sein. Die Forderungen scheiterten jedoch im Gesundheitsausschuss.
Ein neues Ministerium bekommt gleich Ärger
Als einziges Mitglied der Europäischen Wirtschaftgemeinschaft (EWG) verfügte Deutschland bis 1961 über kein nationales Medikamenten-Recht. Das aber forderten die Römischen Verträge zur Angleichung der europäischen Rechtsvorschriften. Deshalb ernannte die Bundesregierung am 14. November 1961 als letztes EWG-Land eine Gesundheitsministerin: Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) übernahm das Amt und wurde sofort mit dem Entsetzen über die Contergan-Schäden konfrontiert.
Dabei verfügte sie noch nicht einmal über ein funktionierendes Ministerium. Das wurde erst Anfang 1962 eingerichtet. Dennoch blieb die Arzneimittel-Überwachung Ländersache. Schwarzhaupt wurde aber von den Medien und der Opposition in die Pflicht genommen und reagierte zunächst mit einer Politik der Abwehr: Noch 1962 bestritt sie den bewiesenen Zusammenhang zwischen dem Contergan-Wirkstoff und den Missbildungen bei Neugeborenen und lehnte eine Entschädigung der Betroffenen aus Bundesmitteln ab.
1964 zog das Ministerium erste Konsequenzen und änderte das Arzneimittelgesetz: Alle neuen Wirkstoffe unterlagen ab jetzt drei Jahre lang der Verschreibungspflicht. Wie die Hersteller die Unschädlichkeit ihrer Produkte überprüften, blieb ihnen immer noch selbst überlassen.
Vom Quacksalber zur chemischen Industrie
Während der Industrialisierung war Deutschland ein weltweit führender Standort chemischer Unternehmen geworden. Die Arzneimittelforschung wanderte aus den Werkstätten der Quacksalber und den Apotheken in die Fabriklabore. Die Apotheker wurden zu Verkäufern von Säften und Pillen, deren Zusammensetzung sie nicht mehr durchschauten. Deshalb forderte der Deutsche Apothekerverein schon 1876 eine gesetzliche Kontrolle des Arzneimittelmarktes. Aber dagegen stand das Prinzip des freien Unternehmertums. Ein wirksamer Verbraucherschutz bei Medikamenten blieb deshalb aus.
Heute wacht ein Bundesinstitut
Unser heutiges Arzneimittelgesetz wurde 1976 beschlossen. Es brachte erstmals ein bundeseinheitliches Verfahren zur Medikamentenkontrolle. Die Beweislast im Genehmigungsverfahren liegt seither bei den Herstellern: Sie müssen in pharmakologischen und klinischen Versuchen nachweisen, wie ihr Mittel wirkt und dass es ungefährlich ist. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) kann die erforderlichen Nachweise nach dem Stand der Forschung festlegen. Es kann Nachprüfungen veranlassen und Zulassungen im Nachhinein entziehen. Erst dieses Gesetz zieht unübersehbar die Lehren aus der Contergan-Affäre.
Jedes Medikament erhält nun auf seiner Verpackung eine Zulassungsnummer. Sie belegt, dass der Wirkstoff an meist 100 bis 300 Patienten getestet wurde. Jedes neue Medikament bleibt für fünf Jahre rezeptpflichtig. Diese Zeit gilt als erweiterte Testphase, denn viele Neben- und Wechselwirkungen zeigen sich erst langfristig und bei größeren Patientengruppen. Während dieser Testphase werden Daten über die Medikamentenwirkung zentral gesammelt. Zeigen sich unvorhergesehene Risiken, können Medikamente wieder vom Markt genommen werden - wie bei dem Cholesterinsenker Lipobay.
Hohe Hürde für kleine Firmen
Die Prüfverfahren traten 1978 in Kraft. Allen Medikamenten, die schon auf dem Markt waren, gewährte das Gesetz eine Übergangsfrist bis zum Jahr 2005, um ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nachzuweisen. Für viele Mittel war dieser Beweis nicht möglich, für zahlreiche kleinere Pharmaunternehmen zu aufwändig. Tausende Präparate verschwanden vom Markt. Mittel der Alternativmedizin - rein pflanzliche Medikamente, homöopathische und anthroposophische Mittel - unterliegen ebenfalls einer Qualitätsprüfung, müssen ihre Wirkung aber nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden nachweisen. Weil ihre Wirkweise nicht exakt beschreibbar ist, dürfen auf ihren Verpackungen keine bestimmten Anwendungsgebiete genannt werden.