Der Umfrage-Schock von Anfang Juni hatte es in sich - und die Schockwellen laufen weiter: AfD und SPD liegen zum ersten Mal im Deutschlandtrend der ARD gleichauf. FDP und Grüne werden von den Rechtspopulisten in Umfragen abgehängt.
Nur noch gut die Hälfte der Deutschen würde sich weigern, eine Partei zu wählen, deren Höcke-Flügel Anleihen beim Nationalsozialismus macht! Plötzlich gibt es in der vielzitierten "bürgerlichen Mitte" keine Scham mehr, keine Berührungsangst mehr vor einer in Teilen rechtsradikalen Partei.
Der Aufstieg der AfD ist kein 'Ossi-Phänomen'
Wieso gibt es plötzlich die jahrelangen stabilen "Brandmauern" nicht mehr? Zum ersten Mal sind Verunsicherung und Wut im bürgerlichen Lager so groß, dass nicht die "bürgerliche Opposition" davon profitiert - also die CDU und Friedrich Merz, sondern die AfD.
Noch vor einem Jahr stand sie bei elf Prozent. Jetzt steht sie bei 18. Das Superwahljahr 2024 in Ostdeutschland mit Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg droht ein AfD-Triumphzug zu werden.
Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer forscht seit 40 Jahren über die politische Rechte und bringt es gerade mit Blick auf die neuen Bundesländer auf den Punkt: "Das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden, ist im Osten verbreiteter als im Westen. Wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts." Und neigt laut Heitmeyer und zahlreichen Studien zu "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit." Sprich: zu Ausländerfeindlichkeit.
Wie stark und hemmungslos ausdrucksstark die AfD im Osten ist, bekommen Bonner Freunde von mir hautnah mit. Sie haben in Brandenburg ein kleines Bauernhaus als Feriensitz gekauft. Seit Monaten beobachten sie Monstertrucks mit AfD-Flaggen und mit Südstaaten-Flaggen der Trump-Fanatiker aus den USA. Aber nicht nur in Brandenburg, Sachsen und Thüringen stehen die Zeichen auf Radikalisierung und gesellschaftliche Spaltung.
Der Aufstieg der AfD ist kein 'Ossi-Phänomen'. Er ist eine Schande für ganz Deutschland. Millionen von Wählern fühlen sich von den anderen Parteien nicht mehr angesprochen!
Bürgerferne Ampel und Opposition
Gerade in den "Armenhäusern des Ruhrgebiets" zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal wurden und werden viele von der zum Teil zweistelligen Inflation besonders hart geknebelt und fürchten den weiteren sozialen Abstieg. Erst das Ende von Kohle und Stahl und jetzt eine Chemieindustrie, die international immer mehr unter Kosten-Druck gerät.
Die Gefahr der weiteren De-Industrialisierung des Ruhrgebiets und ganz Deutschlands ist real. Evonik-Chef Kullmann warnt in der Essener Firmenzentrale fast täglich vor der Abwanderungs-Gefahr für die Chemieindustrie. Wegen abenteuerlich hoher Energiepreise, Bürokratie-Irrsinn und Überregulierung.
Viele Facharbeiter von Evonik, Bayer und BASF, die mit ihren hohen Steuern das soziale Netz in Deutschland entscheidend mitfinanzieren, fühlen sich vom sozialen Abstieg bedroht. Sie fürchten, die Kontrolle über ihre Biographie zu verlieren. Vor allem aber fühlen sich mittlerweile nicht wenige von ihnen bei den Ultrarechten mehr zuhause als bei den Sozialdemokraten. Die SPD hat ihr Monopol bei den Arbeitern und vielzitierten "kleinen Leuten" längst verloren. Auch und gerade im Ruhrgebiet. Und die Linke ist als erste Protestadresse sowohl im Osten wie im Westen Vergangenheit - ob mit oder ohne Sahra Wagenknecht.
AfD lebt von Feindbildern
Mit dem Abgang von "Wir-schaffen-das"-Angela Merkel kam der AfD ihr wichtigstes Feindbild abhanden. Die Kommunikations-Strategen von Weidel und Höcke mussten aber nicht lange nach einem neuen suchen.
Der grüne Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck liefert permanent Steilvorlagen für eine perfekte neue Zielscheibe. Gerade weil sich die Grünen gerne moralisch aufs hohe Ross setzen, ist Habecks Fallhöhe besonders groß. Vetternwirtschaft, Trauzeugen-Affaire, Grüner Filz: Der grüne Wirtschaftsminister ist für die Propagandamaschine der AfD mittlerweile unverzichtbar.
Die reichweitenstärksten AfD-Posts in sozialen Medien zielen nicht mehr auf Migration und Flüchtlingspolitik. Sie richten sich mittlerweile gegen die angeblich ökodiktatorische Umerziehung durch die Grünen. Personifiziert vor allem durch den grünen Wirtschafts- und Klimaminister.
"Habeck raus, nicht die Heizung", lauten seit Wochen die AfD-Parolen. Orchestriert von "Habecks Heiz-Hammer" der Bild-Zeitung. Jetzt kann sich die AfD gleich doppelt die Hände reiben: Das Heizungsgesetz wurde inhaltlich entkernt, der Klimaschutz-Effekt ist kaum noch erkennbar. Habeck ist nachhaltig geschädigt. Als Tiger für den Klimaschutz gesprungen und als Bettvorleger für die AfD gelandet.
Vermeidbares Trauerspiel
Dieses grüne Trauerspiel war vermeidbar. Die "Wirtschaftsweise" Veronika Grimm hatte es Habeck zu erklären versucht: Wer den Klimawandel 'bürgernah' bekämpfen will, muss den CO2-Preis erhöhen und den Emissionshandel stärken. Steigende Kosten für Gas und Heizöl sorgen dann automatisch für mehr Klimafreundlichkeit im Heizungskeller.
Aber Habeck und seine Ideologie-getriebenen Staatssekretäre misstrauen der Marktwirtschaft. Der Vizekanzler wollte Haus- und Wohnungsbesitzern lieber vorschreiben, wie und wann sie ihre Heizung umrüsten.
Demokratie: gefährdet!
Der politische Kollateralschaden ist immens. Es wächst nicht nur das Misstrauen gegenüber der Ampel. Es wächst das Misstrauen gegenüber der Demokratie. 67 Prozent der Wähler würden die rabiaten Rechtspopulisten nicht aus Überzeugung wählen. Sondern aus Frust. Mit anderen Worten:
Ein Viertel der Grundschüler in Deutschland kann nicht richtig lesen. Kein Wunder! Schon ein einfaches Diktat gilt bei vielen linken und grünen Bildungspolitikern als autoritär. Leistung ist verpönt.
Die Grünen können bei ihrem Länderrat nahe Frankfurt an diesem Wochenende zeigen, ob sie die Frustration vieler Wähler verstanden haben.
AfD - Warnsignal auch für die ARD
Auch für uns Journalisten ist der AfD-Höhenflug ein Warnsignal: Wir müssen den Abstand zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung deutlich verringern. Gerade wir Öffentlich-Rechtlichen müssen die Breite des Meinungsspektrums abbilden. Sonst hat die Rundfunkgebühr mit einer Demokratie-Abgabe herzlich wenig zu tun.
Ich erinnere mich noch genau wie ich gern den Fernseher meiner Eltern mit Eiern beworfen hätte, sobald der rechtskonservative Gerhardt Löwenthal mit seinem ZDF-Magazin auf dem Bildschirm erschien. Aber wie gut, dass es die Ultrakonservativen wie Löwenthal gab!
Heute sehe ich nur noch Restle, Reschke und Will - aufgeklärte KollegInnen! Und natürlich die Heute Show mit Oliver Welke. Aber mit einem breiten Meinungsspektrum haben sie alle nur bedingt zu tun.
Ein Dieter Nuhr als Feigenblatt reicht nicht, liebe ARD!
Blick nach nebenan
Niemand weiß, ob und wie lange der demoskopische Höhenflug der AfD anhält. Aber ein Blick zu unseren EU-Nachbarn Italien, Schweden, Finnland und vielleicht bald Spanien zeigt die grenzüberschreitende Krise der Konservativen und Sozialdemokraten. Und den anhaltenden Triumph der Rechten.
Die Aussicht in Zukunft neben der AfD auch noch eine Sahra-Wagenknecht-Partei im Parlament zu haben, ist wenig tröstlich.
Wir alle sind aufgefordert, Themen zu enttabuisieren und endlich für eine offene Debattenkultur zu kämpfen. Im Fernsehen, Radio und auf allen Social-Media-Kanälen. Selbst bei TikTok hat die AfD mittlerweile mehr Follower als die anderen Parteien. Wir dürfen die Diskussion über dramatische Fehlentwicklungen nicht rechten Hetzern überlassen.
AfD: ein Alarmsignal für Deutschland!
Was denken Sie? Wie sind die Rekordwerte der AfD zu erklären? Lassen Sie uns darüber diskutieren! In den Kommentaren auf WDR.de oder auf Social Media.
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Kommentare zum Thema
Sie schreiben in Ihren Beitrag, Herr Sina, "Es fehlt eine klare Botschaft an die potentiellen AfD-Wähler, die gerade nicht rechtsextrem sind, sondern frustriert". Gibt es die denn? Und welchen Anteil machen sie aus? --- Einen weiteren Punkt möchte ich noch ansprechen: Die völlig schiefgelaufe Kommunikation beim Gebäudeenergiegesetz. Nach meiner Wahrnehmung hat keineswegs Hr. Habeck, stolz die Druckseiten geschwenkt und "Heureka" gerufen, sondern ein unausgegorener Entwurf wurde von interessierter Seite an die Öffentlichkeit gezerrt, mit allen bekannten Folgen. Das war kaum vermeidbar. Der Marktwirtschaft war hier nicht zu vertrauen. Der Markt hätte 10, 20 Jahre Zeit gehabt, sich auf die Erfordernisse des Klimawandels einzustellen. Es ist aber wenig bis nichts passiert. Und bürgernah finde ich eine Lösung, die zuvörderst auf den Ablasshandel, sorry, Emissionshandel setzt nicht.
Sehr geehrter Herr Sina, Gerhard Löwenthal war auch für mich ein ständiges Ärgernis, aber ich erinnere mich nicht mehr konkret an Inhalte. Wie sollte denn ein solcher "Löwenthal" heute aussehen? Auf welche Art sollen AfD- Sympathisant:innen angesprochen werden? Und grundsätzlich: Sollen die Öffentlich-Rechtlichen Rundfunkanstalten denen ein Forum bieten, die dem ÖRR feindlich gesinnt sind? Ich möchte nicht die "Inhalte", die hier in vielen Kommentaren immer wieder auftauchen, offiziell zur besten Sendezeit verlesen werden. Wünschenswert wäre natürlich, wenn Protestwähler verständen, dass die AfD eben keine demokratische Partei ist und sie mit ihrer Stimme für sie aktiv die Demokratie demontieren. Ich habe mehrfach gelesen, dass AFD-Wähler und AFD-Wählerinnen für die demokratischen Parteien größtenteils nicht mehr zurückzugewinnen seien. Die Medien, die von AfD-Gläubigen als "Lügenpresse" diffamiert werden, werden bei deren Wähler:innen keine Resonanz finden.
so z.B Kommentar von "Wuschel", sogar noch nachträglich. Auch hier verifiziert sch wieder die altbewährte Lebenserfahrung: "Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich singe" : WDR steckt ohnehin in einer tiefen Legitimationskrise und kann froh sein, daß nach der Netzrevolution das politische Establishment ihn mittels der GEZ-Abgabe künstlich ernähren läßt.
@ WDR zensiert heftig, 12:25 Uhr: Geahndete Verstöße geg. die Netiquette haben erstmal mein Verständnis - ich weiß ja meist nicht, was in den gesperrten Beiträgen stand. Im Geg.satz zu dir halte ich die ÖR für wichtig. Sie arbeiten an sich. Ihnen ist Effekthascherei mMn immer noch weniger wichtig als anderen Sendeanstalten. Bei der löcherigen Durchnummerierung der Kommentare vermute ich fast ein Softwareproblem. Seit Tagen fehlen die Beiträge 19-22, 28, 30+31, 34-37, 39+40, 44, 47-49, 51, 54-57, 60, 62+63 und 71. Mindestens einer dieser Beiträge hat einmal existiert - ich schrieb eine "Antwort", in der ich - überspitzt gesagt - quasi behauptete, die FDP sei der Meinung, die Erfindung des (Star-Trek-) Beamens stünde kurz bevor. Ich meine auch, mindestens #92 bis #101 standen schonmal als "Antworten" unter dem jetzigen #102. Das ist merkwürdig+verwirrend, lässt Spekulationen zu: Andersdenkende, Zensur, etc.. Das ist nicht gut, lieber WDR. "Wuschel" sagte ua., D sei Gewalttäter-Paradies.