Menschen mit Behinderung: Protesttag zur Gleichstellung
Aktuelle Stunde . 05.05.2024. 24:59 Min.. UT. Verfügbar bis 05.05.2026. WDR. Von Meike Hendriksen.
Barrierefreiheit in NRW: "Es ist noch sehr viel zu tun"
Stand: 05.05.2024, 06:00 Uhr
Damit Menschen mit Behinderung in NRW ohne Hürden am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, muss noch einiges passieren - ein Interview mit dem Vorsitzenden des Landesbehindertenrats.
Am 5. Mai ist der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Dabei soll auf immer noch bestehende Diskriminierung und fehlenden Zugang zum gesellschaftlichen Leben hingewiesen werden.
Peter Gabor ist Vorsitzender des Landesbehindertenrats in NRW, einem Zusammenschluss von Betroffenenorganisationen und Interessensverbänden. Er kritisiert, dass viele Vorhaben im Bereich der Barrierefreiheit im öffentlichen Raum noch nicht flächendeckend umgesetzt wurden.
WDR: Herr Gabor, wie barrierefrei ist NRW aktuell, gerade im öffentlichen Raum?
Gabor: Im urbanen Raum kann man schon einiges erkennen. Das ist aber auch von Kommune zu Kommune verschieden. Es ist noch sehr viel zu tun. Es wurde zum Beispiel festgelegt, dass bis 2022 der gesamte öffentliche Personennahverkehr barrierefrei gestaltet werden soll. Wir haben aber noch nicht überall Niederflurbusse, wir haben noch nicht überall barrierefreie Haltestellen, es sind noch viel zu wenige. Wir haben auf den Bahnhöfen immer noch verschiedene Bahnsteighöhen.
Barrierefreiheit wird leider immer noch darauf herunterfokussiert, dass sie nur einen Nutzen für Menschen mit Behinderungen hat und das ist das Problem. Sie ist für sämtliche gesellschaftlichen Gruppen auffindbar, zugänglich und nutzbar. Damit tatsächlich jeder von A nach B kommt, nach Möglichkeit selbstständig.
WDR: Woran liegt es, dass immer noch so viel zu tun ist?
Gabor: Mein Eindruck ist, dass Gewinne erzeugt werden sollen, auch bei Anbietern des ÖPNV. Das geht auf Kosten der Qualität und damit auch der Barrierefreiheit. Wenn ich zwei Busse fahren lasse, nichts an der Gesamtgröße verändere, aber nur die Hälfte der Sitzfläche habe, können auch mehr Menschen im Rollstuhl mitfahren und all diejenigen, die einen Anspruch auf Teilhabe besitzen.
WDR: Wie schwer ist es für Menschen mit einer Behinderung, sich hier Gehör zu verschaffen und Änderungen anzustoßen?
Gabor: Ideal wäre es, wenn vor der Umsetzung eines kommunalen Projekts tatsächlich die Betroffenen zusammenkommen, mit den Planern, mit den Zuständigen aus der Verwaltung. Dass dann da ein Kompromiss entwickelt wird, der allen zu Gute kommt. Daran hapert es, weil dann auch die beratende Tätigkeit, die wir Menschen mit Behinderungen haben, oft nur zur Kenntnis genommen wird.
Umgesetzt wird die Strategie, die die Planer haben, für die sie sich auch in der Politik die Mehrheit holen. Dann entsteht da draußen statt eines barrierefreien Projektes ein Provisorium, was nichts Halbes und nichts Ganzes ist.
WDR: Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Gabor: Da fällt mir als erstes das Konzept des so genannten "Shared Space" ein. (Anmerkung der Redaktion: Bei diesem Straßenbaukonzept wird auf übermäßige Beschilderung, aber auch auf Bordsteinkanten und andere Elemente verzichtet, ein Hintergedanke ist mehr Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer.) Es bedeutet: Keine Kanten. Hört sich vielleicht erst mal sehr gut an, aber jemand, der auf taktile Begebenheiten angewiesen ist, weiß dann nicht, wo er sich befindet. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich auf dem Gehweg laufe, oder auf der Fahrbahn.
WDR: Welche gesetzlichen Vorgaben fehlen denn aus Ihrer Sicht noch?
Gabor: Barrierefreiheit bezieht sich nur auf den öffentlichen Raum, auf öffentliche Gebäude. Die Privaten sind immer noch außenvor und die weigern sich mit Händen und Füßen, ihre Produkte barrierefrei zu gestalten. Wieso soll denn ein Hausbau nicht barrierefrei sein? Die Leute werden immer älter, der Mensch ist nun mal so domestiziert, dass er nach Möglichkeit bis zu seinem Lebensende in einem Haus bleiben will.
WDR: Wie rechtfertigen private Unternehmen dieses Vorgehen?
Gabor: Von der Wohnungsbauwirtschaft wird erklärt, das sei teuer. Wenn man das von vornherein einplant, geht es. Vor allem bringt es eine Nachhaltigkeit. Verpflichten ist ein hartes Wort, wir sind eine Demokratie, aber vermutlich könnte man private Dienstleister nur so dazu bringen, hier zu reagieren.
WDR: Könnte fehlende Barrierefreiheit auch einfach damit zusammenhängen, wie wenig Menschen darüber wissen, die nicht betroffen sind?
Gabor: In der Bevölkerung liegt definitiv zu wenig Wissen vor. Verschiedene Gesetze haben erst vor Kurzem auf den Weg gebracht, dass Betroffene auch immer mehr aus besonderen Wohnformen herauskommen. Früher wurde da auch von Heimen gesprochen, viele wurden in eine Tagesstruktur gesteckt und kamen wenn in Begleitung nach draußen.
Dadurch waren Menschen mit einer Behinderung für die Öffentlichkeit selten sichtbar und für viele sind solche Begegnungen auch heute noch nicht alltäglich. Hier kommen wir nur weiter, wenn auch Betroffene mehr in die Öffentlichkeit gehen und für sich sprechen. Aber dafür bräuchte es eben auch an vielen Stellen bessere Barrierefreiheit.
WDR: Es fehlt also die Lobby?
Gabor: Richtig, und diese Lobby können wir auch noch gar nicht haben, weil wir mehr Zugänglichkeit an einigen Stellen brauchen. Versuchen Sie mal, sich politisch zu aktivieren, wenn Sie im Rollstuhl sitzen oder blind sind. Versuchen Sie mal in ein Parteibüro reinzukommen. Viele scheitern schon am Eingang, weil da Stufen sind und solche Erfahrungen entmutigen natürlich.
Solange wir nicht anfangen, auch in eine inklusive Bildung reinzukommen, so dass alle einen Beruf ergreifen, ihren Platz in der Gesellschaft finden und sich dann auch politisch engagieren können, werden wir Menschen mit Behinderungen keine Lobby haben.
Die Fragen stellte WDR-Reporter Kevin Barth. Er ist selbst fast blind und hat für uns aufgeschrieben, welche Änderung Barrieren in seinem Leben verringern würden.