Der blaue Osten - in Gelsenkirchen
Aktuelle Stunde . 24.02.2025. 28:43 Min.. UT. Verfügbar bis 24.02.2027. WDR. Von Astrid Houben.
Gelsenkirchen wählt blau: Warum die AfD hier so stark wurde
Stand: 25.02.2025, 19:59 Uhr
In Gelsenkirchen wählte jeder Vierte die AfD. Zu Besuch in einer Stadt, in der die Menschen auf Veränderung hoffen und sich abgehängt fühlen.
Von Sabine Schmitt
An einer Bushaltestelle in Gelsenkirchen-Sutum sitzt Klaus-Dieter Luks, 72 Jahre, auf seinem Rollator und wartet. Die Linie 342 Richtung "Gelsenkirchen Westfälische Hochschule" kommt noch nicht. Klaus-Dieter Luks sitzt da, lange bevor ein Bus in Sicht ist und starrt ins Leere. Vielleicht wartet er auch nicht nur auf den Bus. Er wartet auch darauf, dass sich etwas verändert. In seinem Gelsenkirchen, in Deutschland.
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Klaus-Dieter Luks aus Gelsenkirchen
Am Sonntag war Bundestagswahl, Deutschland hat gewählt - auch in Gelsenkirchen. Inzwischen steht fest: Gelsenkirchen ist der Wahlkreis in Nordrhein-Westfalen mit dem höchsten AfD-Ergebnis bei den Zweitstimmen. Etwa 265.000 Menschen leben hier, knapp 170.000 von ihnen durften wählen — 30.032 stimmten für die AfD. Das macht 24,7 Prozent — in NRW bekam die Partei ansonsten im Schnitt nur 16,8 Prozent. Während in NRW nur etwa jede Sechste blau wählte, war es in Gelsenkirchen also jeder Vierte. Klaus-Dieter Luks ist einer von ihnen. Fast die ganze Straße hier habe die AfD gewählt, sagt er.
Luks spricht von der Theodor-Otte-Straße. Hier gibt es viele Mehrfamilienhäuser, auch einige Reihenhäuser. Die Häuser sehen gepflegt aus. Die Stadt Gelsenkirchen schreibt über den Stadtteil: "Sutum ist eine Bauerschaft mit ländlichem Charakter im Stadtteil Beckhausen, in der sich viele Familien angesiedelt haben."
Die Tür zu, die Rolladen runter
"Früher war hier alles besser", sagt Klaus-Dieter Luks. "Wir hatten hier mehrere Wirtshäuser, Lebensmittelläden, Metzger, eine Apotheke. Jetzt gibt es nichts mehr." Ein paar Meter von der Bushaltestelle entfernt ist zu sehen, wo früher mal etwas war, das jetzt weg ist. "Glück Auf — Brauhaus Sutum" steht noch über der Tür. Doch die Tür ist zu. Die Rolladen sind unten, aus der Wand hängen Kabel raus. Hier hat jemand etwas abmontiert. Getränke werden hier schon lange nicht mehr ausgeschenkt.
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Schultoilletten wie 1967
Klaus-Dieter Luks zeigt die Straße runter. Da hinten, da sei eine Schule, erzählt er. Die sei früher mal eine Hauptschule gewesen. Auch er ging hier zur Schule. "Die Toiletten und Waschbecken sehen noch genau so aus, wie damals, 1967, als ich da zur Schule ging. Die Fliesen!", winkt er ab. "Alles uralt." Klaus-Dieter Luks kennt sich aus mit Sanitär-Ausstattungen. Er war Installateur, seit ein paar Jahren ist er Rentner. Alles gehe hier den Bach runter. Die Stadt investiere nicht genug. Dann kommt der Bus.
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Die Theodor-Otte-Straße in Sutum
Wie wird die Zukunft für die Kinder?
Ein paar hundert Meter die Straße runter läuft Marcel Blaschek. Er ist 40 Jahre alt und möchte mit keiner Partei in Verbindung gebracht werden. Es sei egal wer es anpackt, aber die Politik müsse etwas tun. Marcel Blaschek hat zwei Kinderfahrräder unterm Arm. Das eine Fahrrad hat einen Platten: "Das muss zur Reparatur." Das andere fährt seine kleinere Tochter gleich heim in die Reihenhaus-Siedlung, wenn er sie aus der Kita abholt. Seine Mädchen seien vier und sieben Jahre alt. Er sorgt sich um ihre Zukunft. "Sie sollen mal dieselben Chancen haben wie unsere Generation." Er fragt sich, ob sie die haben werden. Und er fragt sich, ob er mal ausreichend Rente bekommt.
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Marcel Blaschke sorgt sich um die Zukunft seiner Töchter
Vieles sei heute nicht mehr so leicht, wie früher. "Ein Termin beim Zahnarzt? Dauert Monate.", sagt er. Manchmal sei es sogar schwierig einen Termin beim Kinderarzt zu bekommen, wenn die Kinder krank sind. Da seien aber auch noch die steigenden Kosten. "Wir sind vier Personen im Haushalt. Meine Frau und ich arbeiten beide. Anders geht es nicht", sagt Blaschek. "In Deutschland haben wir ein Steuersystem, das ist für die Tonne. Wir als Familie werden zu stark besteuert." Ungerecht sei das. Gleichzeitig werde alles wegen der Inflation immer teuerer. Das Gleichgewicht sei so verloren gegangen, und die Verhältnismäßigkeit. Er und seine Frau arbeiteten hart, sagt er. Trotzdem bleibe nicht viel übrig. Ist ein Urlaub drin? "Höchstens mal im Sommer ein paar Tage in Holland." Alles andere sei nicht drin.
"Wenn jeder nur an sich denkt, funktioniert es nicht"
Marcel Blaschek ist als Gebäudemanager angestellt. Heute Vormittag hat er sich am Streikaufruf von Verdi beteiligt, war schon demonstrieren. Er sei jemand, der sich einsetze und helfe: "Wir müssen zusammenhalten", sagt er. Wenn jeder nur an sich denke, dann funktioniere es nicht - nirgendwo. Ein gutes Miteinander habe er von seinen Eltern vorgelebt bekommen und auch in seinem vorherigen Job erlebt. Marcel Blaschek war Bergmann: "Familientradition. Wie der Vater und der Großvater."
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Eine der Zechen: Die Zeche Holland in Gelsenkirchen
Die Zechen sind inzwischen alle dicht. An Zusammenhalt und Kameradschaft halte er trotzdem fest. Zum Beispiel in der Schule und in der Kita, sei das wichtig. Wenn die Eltern nicht überall helfen und unterstützen würden, ginge es da nicht. Die Stadt habe einfach zu wenig Geld für diese Einrichtungen. Sogar Waschbecken hätten Eltern schon repariert. Marcel Blaschek kennt auch die Schultoiletten, von denen Rentner Klaus-Dieter Luks gesprochen hatte. Schlimm sei das, wie bei den Jüngsten gespart wird. "Und dann fehlen auch noch Schulleiter, Lehrer und Erzieher", sagt er weiter.
Viele wollen anonym bleiben
Über Probleme reden viele mit uns hier in Gelsenkirchen, aber nicht alle wollen das namentlich. Die Menschen beschreiben Ängste und Nöte, darunter Abstiegsängste. Sie fühlen sich von der Politik im Stich gelassen.
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Werbung für Alice Weidel und die AfD an der Kurt-Schumacher-Straße
Eine ältere Dame zieht einen blauen Einkaufstrolley hinter sich her. Sie hat graue Haare mit einem Lila-Stich und trägt eine Steppjacke. Es gehe um die Zukunft ihrer Kinder, sagt sie in osteuropäischem Akzent. Sie ist 72 Jahre alt, ihre Söhne seien 35 und 45 Jahre. Sie ist eine Mutter mit erwachsenen Kindern, aber auch sie sorgt sich. Zum Beispiel, dass genügend Geld da ist zum Leben. Dass ihre Kinder Arbeit haben. Die AfD sei für sie die einzig wählbare Partei. Ihren Namen will sie nicht nennen.
In einem Büdchen auf der Straße steht der 19-Jährige Gian-Luca hinterm Tresen. Kariertes Hemd, Schalke-Tattoo am Unterarm, freundliches Lächeln. Er habe Angst vor Krieg. Er wolle keinen Krieg in Deutschland. "Nirgendwo auf der Welt". Er fragt: "Was passiert, wenn Merz Taurus-Raketen an die Ukraine liefert?" Er hat Angst davor, dass Putin irgendwann auf Deutschland zielen könnte. "Hier ist viel chemische Industrie", sagt er. Gleich um die Ecke sei zum Beispiel eine Raffinerie.
Auch der 19-Jährige sagt: "Früher war es besser"
Gian-Luca macht sich Gedanken über die Sicherheit in Deutschland. Was er bei TikTok sehe und höre, über Gewalttaten, Kriege - das sei besorgniserregend. Er erinnert an die Anschläge in München und Aschaffenburg. Mit seiner Freundin spreche er manchmal über Kinder, ob sie welche wollen und wie alles werden könnte. Aber dann würden sie sich auch Sorgen machen. Als er noch ein Kind war, sei das nicht so gewesen. Da habe es sich in Deutschland sicherer angefühlt. "Das hätte ich gerne zurück." Auch Gian-Luca, der 19-Jährige, sagt wie Rentner Klaus-Dieter Luks: "Früher war es besser." Vieles von dem was die AfD sagt, findet der 19-Jährige gut.
Bier und Korn am Morgen
Während er spricht, kommen Kunden in sein Büdchen rein. Es ist noch Vormittag, man kennt sich hier. Gian-Luca spricht sie mit Namen an, weiß schon vor der Bestellung, was sie möchten. Eine ältere Frau kauft Korn. Ein Rentner kauft zwei Flaschen Bier, Korn und eine Tüte gemischte Süßigkeiten. Dann fragt er: "Wo kann ich Gold verkaufen?" Der 19-Jährige sagt: "Beim Juwelier."
Gelsenkirchener Marco Buschmann (FDP) chancenlos
Die Linie 342, in die Klaus-Dieter Luks am Morgen eingestiegen war, fährt bis zur Westfälischen Hochschule, vorbei an einem Plakat von Marco Buschmann, FDP. Er ist hier Direktkandidat. Gelsenkirchen ist seine Geburtsstadt und der Ort, wo er aufgewachsen ist. Er ist hier zur Schule gegangen, seine politische Karriere hat hier begonnen.
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Ein Wahlplakat vom gebürtigen Gelsenkirchener Marco Buschmann
Doch Marco Buschmann erhielt in seiner Stadt bei der Bundestagswahl 2025 in Gelsenkirchen nur 4.038 Erststimmen, was einem Anteil von 3,3 Prozent entspricht. Im Vergleich zur vorherigen Wahl verlor er 4,8 Prozentpunkte. Die meisten Erststimmen holte Markus Töns von der SPD. Aber die AfD ist den etablierten Parteien auch hier auf den Fersen. Friedhelm Rikowski, Direktkandidat der AfD, holte 25,8 Prozent — 11,8 Prozentpunkte mehr als bei der vorherigen Bundestagswahl.
"Die Leute wollen, dass sich was ändert", hatte in Sutum noch einer auf der Straße gesagt, der auch anonym bleiben möchte. "Dass einer Deutschland saniert und sich wieder um die Arbeiter kümmert." Die SPD habe das zuletzt nicht mehr getan. Von der Politik der FDP für Besserverdiener seien sie hier weit weg. Gelsenkirchen ist eine Arbeiter-Stadt. Und in Gelsenkirchen gibt es Stadtteile, so sagen sie hier, in denen sie Angst haben. Die Innenstadt sei runtergekommen, und an manchen Orten gebe es zu viele Migranten.
Studenten reicht das Bafög nicht
An der Endhaltstelle der Linie 342 steht ein modernes Gebäude. Hell, sauber, freundlich - die Westfälische Hochschule. Wer es bis hierher geschafft hat, hat es besser als viele Grundschüler in Gelsenkirchen. Es sind noch Semesterferien, doch einige Studentinnen und Studenten sind trotzdem da. Sie sitzen an den Tischen und lernen. Eine von ihnen ist Emma Gajin. Fotografiert werden möchte sie nicht.
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Studentin Emma Gajin. Erkannt werden will sie nicht.
Sie wird bald 20 Jahre alt und studiert Medizintechnik. Vorher hat sie schon eine Ausbildung im sozialen Bereich gemacht. Auch die Studentin sagt, es müsse sich dringend was ändern in Deutschland. Sie wird wohl mal mehr verdienen, als die einfachen Arbeiter in Gelsenkirchen. Auch sie sagt: "Das Steuersystem ist ungerecht, vor allem für Familien." Die Mieten seien zu sehr gestiegen. Inflation und steigende Preise überhaupt seien ein Problem.
Studentin: "Politik muss für alle da sein"
Als Studentin wünscht sie sich deshalb mehr Geld vom Bafög, der finanziellen staatlichen Unterstützung für Studenten. Aus ihrer Schulzeit wisse sie, wie vernachlässigt Schulen inzwischen seien. Im Ukraine-Krieg ist sie gegen die Taurus-Lieferung. Aber sie ist auch gegen die AfD. Die neue Bundesregierung dürfe mit denen auf keinen Fall eine Koalition bilden. Die AfD würde im Sozialen doch nur noch mehr kürzen. Für sie steht die Partei aber auch für Hassreden. "Es wäre schön, wenn man in der Politik den Hass wieder beiseite legen, weniger pauschalisieren und wieder menschlicher sein würde." Diese ganze Polarisierung tut dem Land nicht gut. "Politik muss für alle da sein — und nicht nur für die einen oder die anderen."
Unsere Quellen
- Reporterin vor Ort
- Stadt Gelsenkirchen
- Deutscher Bundestag - Marco Buschmann
- Bundeswahlleiterin - Bundestagswahl 2025 - Ergebnisse für Gelsenkirchen