Fachkräftemangel im Handwerk bremst Bauvorhaben von NRW-Gemeinden
Stand: 15.11.2023, 05:00 Uhr
Ob Schulsanierung oder Neubau der Feuerwache, ohne Handwerker geht auf Baustellen nichts. Eine WDR-Umfrage zeigt: Der Fachkräftemangel behindert in vielen Städten NRWs zwei Drittel aller Bauvorhaben.
Von Nándor Hulverscheidt
Die Kommunen in Nordrhein-Westfalen werden bei ihren Bauvorhaben von den Auswirkungen des Mangels an Handwerkern gebremst. Vielerorts ist jedes zweite städtische Projekt betroffen, zeigt eine Umfrage des WDR.
51 Städte schätzen sogar, dass mehr als 80 Prozent ihrer Planungen und Baustellen beeinträchtigt sind. Großstädte spüren den Fachkräftemangel ebenso wie kleinere Gemeinden.
Als Auswirkungen des Handwerkermangels nannten besonders viele Städte eine geringe Anzahl von Bewerbungen auf öffentliche Aufträge, ungewöhnlich teure Angebote oder Verzögerungen während der Bauphase.
Zum Fachkräftemangel kamen seit 2022 noch Lieferschwierigkeiten durch Russlands Krieg gegen die Ukraine hinzu. Bei vielen Projekten haben Verzögerungen deshalb mehr als eine Ursache.
Bei einem Essener Dachdecker stapeln sich Anfragen
Eine Menge unbearbeitete Aufträge liegen auch auf dem Schreibtisch von Robert Solle, Inhaber eines Dachdeckerbetriebs in Essen-Kettwig. "Da sind schon welche dabei, die da Monate liegen, wo ich nicht zu komme. Es ist einfach zu viel", sagt Solle.
Er hat vor allem Privatleute als Kunden, die meist unkomplizierter für Handwerker sind als öffentliche Auftraggeber. Denn Gemeinden müssen teilweise kompliziertes Vergaberecht berücksichtigen.
Einmal habe er sich auf eine Ausschreibung für eine Schuldachsanierung im Ort beworben, erzählt Solle. "Danach habe ich mir gesagt: Ich mache nie wieder bei sowas mit, weil die Zeit hätte ich mir schenken können."
Ein Team der WDR Redaktion "Die Story" hat Solle mehrere Monate begleitet. Der Alltag seiner Tochter Marleen und ihrer Mitarbeiter auf den Essener Dächern steht im Mittelpunkt einer Reportage zum Thema Handwerkermangel, die am 15. November um 22:15 Uhr im WDR Fernsehen gezeigt wird und bereits bei WDR Doku auf Youtube zu sehen ist.
in NRW gibt es keine aktuelle, landesweite Statistik zu öffentlichen Baustellen. Deshalb hat der WDR im Mai dieses Jahres alle 396 Städte und Gemeinden im Bundesland direkt kontaktiert. An der Umfrage haben sich 176 Kommunen beteiligt, das entspricht einer Teilnahmequote von 44 Prozent.
Das Vergaberecht macht öffentliche Aufträge unattraktiv
Mehr als 70 Gemeinden in NRW geben an, bereits Aufträge ausgeschrieben zu haben, ohne ein einziges Angebot zu erhalten. Fast alle antwortenden Städte berichten, dass es die Zahl der Rückmeldungen auf Ausschreibungen gesunken sei. Ein Trend, der laut Experten in den Bauämtern schon seit Jahren besteht.
Städte müssen sich bei Bauprojekten an die Vergabeordnung halten. Wenn ein Auftrag bestimmte Summen überschreitet, kann er nicht mehr direkt oder im Schnellverfahren vergeben werden, sondern muss aufwändig ausgeschrieben werden. Das soll fairen Wettbewerb sichern.
Aber kleinere oder mittlere Betriebe würden sich auf öffentliche Ausschreibungen meist gar nicht mehr bewerben, so eine Gemeinde gegenüber dem WDR. Denn Teilnahmewettbewerbe sind für die Handwerker zusätzliche Büroarbeit, die unbezahlt bleibt, wenn sie den Auftrag nicht bekommen.
Ein häufiges Problem sind auch Angebote, die über dem geplanten Budget liegen. Die Gemeinden haben in diesem Bereich wenig Spielraum, vor allem wenn sie Fördermittel verwenden. Diese Komplexität führt zu bürokratischem Aufwand in den städtischen Planungsbüros, die oft selbst unbesetzte Stellen für Fachkräfte haben.
Laut einer Analyse der Bundesagentur für Arbeit könnte gegen den Fachkräftemangel auch eine verstärkte Berufstätigkeit von Frauen helfen. Das Bau- und Ausbaugewerbe ist eine der Branchen mit einem besonders geringen Frauenanteil.
Veraltete Vorurteile schaden dem Handwerk
Marleen Solle, selbst Dachdeckermeisterin Betrieb ihres Vaters in Essen, setzt sich mit einem Instagram-Kanal für ein besseres Image ihres Berufs ein. „Viele denken, wer im Dachdecker-Handwerk bestehen will, muss hart im Nehmen sein“, sagt sie.
Ihr geht es aber nicht nur um mögliche Vorbehalte bei Frauen gegenüber dem oft als rau geltenden Bauhandwerk. In der WDR Reportage erzählt sie, wie ein begeisterter Praktikant nicht mehr wiederkam, wohl weil seine Eltern dagegen waren.
"Manche Eltern finden das ja super, wenn man handwerklich irgendwas macht. Aber ich weiß nicht, ob manche da nicht auch so ein bisschen gegen sind. Dass sie sagen: niederes Volk, Handwerker", sagt Marleen Solle.
Ihr Vater Robert setzt dem entgegen, wie sicher die Arbeitsplätze im Handwerk seien. Die Industrie, mit der Betriebe wie seiner um Nachwuchs konkurrieren, rede zwar gern über neu geschaffene Ausbildungsplätze. Aber man höre sehr viel weniger darüber, wie viele Stellen diese Unternehmen in den vergangenen Jahren abgebaut haben.
Frauen auf der Baustelle sind noch selten
Laut Soziologin Lydia Malin vom Institut der Deutschen Wirtschaft fehlen gerade für Frauen oft noch Vorbilder im Handwerk. "Ich glaube, dass in den Betrieben gar nicht mehr so viele Vorbehalte bestehen gegenüber Frauen. Aber es ist eben schwierig, Frauen für den Betrieb zu gewinnen."
Marleen Solle könnte so ein Vorbild sein. Die Dachdeckermeisterin wird wahrscheinlich in Zukunft eine von bisher wenigen Eigentümerinnen im Bauhandwerk werden. Deren Anteil steigt langsam aber stetig, wie Zahlen des Zentralverband des Deutschen Handwerks zeigen.
Sie wird wie viele Betriebsnachfolger in den nächsten Jahren vor der Frage stehen, mit welchen Mitarbeitern sie den Betrieb nach einer Übernahme weiterführen soll. Denn die meisten von Solles ausgebildeten Dachdeckern sind wie ihr Vater bereits über 50 Jahre alt.
- Sendehinweis: Die Story | 15. November 2023, 22.15 - 23.00 Uhr | WDR
Die Reportage zum Thema zeigt das WDR Fernsehen am 15. November 2023 um 22:15 Uhr. Die Recherche entstand in Zusammenarbeit von "Die Story" und WDR Data.