Kritik am Flüchtlingsabkommen zwischen EU und Tunesien

Stand: 18.07.2023, 11:32 Uhr

Mit mehr als einer Milliarde Euro will die EU Tunesien unterstützen. Als Gegenleistung soll der nordafrikanische Staat die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer bremsen. Vor allem von der Seenotrettungs-Initiative Sea-Watch kommt Kritik.

Die Europäische Union hat ein umfassendes Abkommen mit Tunesien geschlossen, mit dem sie verhindern will, dass Flüchtlinge, vor allem über das Mittelmeer auf irregulären Wegen, versuchen in die EU zu gelangen. Im Gegenzug stellt die EU dem nordafrikanischen Staat umfangreiche Finanzhilfen in Aussicht.

Mark Rutte, Ursula von der Leyen, Kais Saied und Giorgia Meloni (v.l.n.r.) geben sich bei ihrem Treffen zum Umgang mit Migration demonstrativ die Hand.

Mark Rutte, Ursula von der Leyen, Kais Saied und Giorgia Meloni (v.l.n.r.).

Die Vereinbarung solle unter anderem die Kooperation im Kampf gegen Schleuser verbessern, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntag in Tunis. Sie wurde bei ihrem Besuch beim tunesischen Präsidenten Kais Saied von der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni und dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte begleitet.

Mehr als eine Milliarde EU-Gelder für Tunesien

Das geschlossene Abkommen sieht 105 Millionen Euro EU-Gelder für Tunesien für den Kampf gegen irreguläre Migration vor, die etwa für Such- und Rettungsaktionen und die Rückführung von Migranten genutzt werden sollen.

Zudem sind 150 Millionen Euro Haushaltshilfen für das nordafrikanische Land geplant, das unter einer massiven Staatsverschuldung leidet. Bei einem vorangegangenen Besuch vor gut einem Monat hatten die drei europäischen Politiker außerdem weitere 900 Millionen Euro langfristige Unterstützung über mehrere Jahre in Aussicht gestellt, beispielsweise in Form von Darlehen.

Migrationsforscher sieht Abkommen kritisch

Während die EU-Kommissionspräsidentin das Abkommen als großen Fortschritt anpreist, gibt es auch weniger euphorische Stimmen. Es sei viel zu früh, die Vereinbarung zwischen der EU und Tunesien zu bewerten, sagt unter anderem der Migrationsforscher Gerald Knaus im Interview mit dem Deutschlandfunk. "Wie genau die Zahl der Menschen aus Tunesien, aber auch aus Guinea oder der Elfenbeinküste, die in die Boote steigen in diesem Jahr, reduziert werden soll, das ist mir auch nach dem Lesen dieses Textes noch nicht ganz klar."

Dennoch hält er einige der Punkte des Abkommens für sinnvoll. Unter anderem, dass sich die EU in Tunesien im Bereich der erneuerbaren Energien engagieren will, dass die Einreise von Menschen aus Tunesien in die EU mithilfe von Visa erleichtert werden soll oder auch, dass legale Arbeitsmöglichkeiten für Tunesier in der EU geschaffen werden sollen. "Das sind Ansätze, die ergeben Sinn", so Knaus.

"Die große Sorge ist: Wie geht Tunesien mit den Menschen um, die aus Subsahara-Afrika an die Küste kommen?" Gerald Knaus, Migrationsforscher

Integrationsministerin: "Umgang mit Flüchtlingen besorgniserrend"

Der Umgang mit Geflüchteten an der tunesisch-libyschen und tunesisch-algerischen Grenze sei absolut besorgniserregend, sagt auch die NRW-Integrations-und Flüchtlingsministerin Josefine Paul gegenüber dem WDR. "Weshalb es fraglich ist, ob die vereinbarte Zusammenarbeit humanitären und menschenwürdigen Standards entspricht."

Integrations-und Flüchtlingsministrerin Josefine Paul

NRW-Integrations-und Flüchtlingsministrerin Josefine Paul

Es sei sinnvoll und richtig, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten auch mit Ländern wie Tunesien darüber im Gespräch sind, wie das Sterben im Mittelmeer verhindert werden könne. "Klar ist aber auch: Migrationsabkommen können nicht die jetzigen konkreten Herausforderungen bei der Unterbringung, Versorgung und Integration lösen. Wir brauchen bei der Steuerung von Migration endlich ein Gesamtkonzept zu Wegen legaler Migration, einer dauerhaften Integrationsinfrastruktur und einer schnellen Arbeitsmarktintegration. Darüber hinaus muss der Bund endlich zusagen, sich dauerhaft und strukturell an den Kosten von Unterbringung und Integration zu beteiligen."

Auch Seenotretter kritisieren Deal

Genau diese Bedenken hat auch die gemeinnützige Seenotrettungs-Initiative Sea-Watch. "Da werden mit EU-Geldern weitere Menschenrechtsverletzungen finanziert", sagt Oliver Kulikowski, Sprecher der Initiative. "Einen ähnlichen Deal hat die EU ja auch mit Libyen, wo immer wieder Menschen gegen ihren Willen unter Gewalt zurückgeschleppt und dann in einem Teufelskreis aus Menschenrechtsverletzungen und erneuten Fluchtversuchen enden."

Dazu passt die Meldung von Montag, nach der ausgerechnet libysche Grenzschutzbeamte Dutzende Migranten aus der Wüste gerettet haben, nachdem diese mutmaßlich von Sicherheitskräften in Tunesien an der gemeinsamen Landesgrenze ausgesetzt wurden.

Auch die Gelder, mit denen der Kampf gegen die Schlepperkriminalität unterstützt werden soll, hält Kulikowski für falsch investiert. "Einerseits, weil es Untersuchungen gibt, die zeigen, dass die Überschneidungen zwischen Küstenwache und Schlepperbanden nicht zu unterschätzen sind", so der Sea-Watch-Sprecher. "Andererseits, weil man Schlepperkriminalität nur damit bekämpfen kann, dass man den Schleppern ihr Geschäftsmodell kaputtmacht." Und das gehe nur durch die Schaffung von legalen Migrationsmöglichkeiten.

Über dieses Thema berichtet auch die Aktuelle Stunde am 17.07.2023 im WDR Fernsehen.

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