Eines ist sicher: Die Aufarbeitung der Geschehnisse um die Räumung des Ortes Lützerath am rheinischen Braunkohletagebau wird Zeit beanspruchen. Am Sonntag war die Räumung beendet, lediglich zwei Aktivisten harrten noch in einem Tunnel aus. Am Montag haben sie ihre lebensbedrohliche Lage freiwillig beendet und den Tunnel verlassen. Heftig diskutiert werden weiterhin die Ereignisse bei der Demo am Samstag.
Laut Polizei hatten etwa 1.000 großenteils vermummte "Störer" versucht, auf das abgesperrte Gelände von Lützerath vorzudringen. Um sie abzuwehren, setzten die Beamten Wasserwerfer, Räumpanzer, Schlagstöcke, Pfefferspray, Hunde und Pferde ein. Weitere Demonstrierende wurden von der Abbruchkante am Braunkohletagebau vertrieben. Unbestritten ist, dass von einer Bühne verkündet worden war: "Jeder kann machen, was er will. Jeder entscheidet selber, wie weit er geht."
Angeblich lebensgefährlich verletzte Demo-Teilnehmer
Polizeieinsatz in Lützerath
Die Veranstalter der Demo und Sprecher der Lützerather Aktivisten warfen hingegen der Polizei Gewaltexzesse vor. Bei der Großdemonstration am Samstag seien Menschen "mit purer Gewalt" aufgehalten worden, sagte Indigo Drau von der Initiative "Lützerath lebt". Eine Sprecherin des Sanitätsdienstes der Demonstranten sagte, Beamte hätten "hemmungslos" auf Demonstrierende eingeprügelt. Die Polizei habe "systematisch auf den Kopf von Aktivistinnen und Aktivisten geschlagen". Auch lebensbedrohliche Verletzungen habe es gegeben.
Diese Aussage wurde später von "Lützerath lebt" korrigiert. Es habe zum Glück keine lebensgefährlich Verletzten gegeben, sagte ein Sprecher der Initiative der "Süddeutschen Zeitung".
Von den Aktivisten wurde die Zahl der Verletzten seit Beginn der Polizeiaktionen auf rund 300 geschätzt. Einen genauen Überblick habe man sich noch nicht verschaffen können. Allein am Samstag seien aber "mindestens 90 Personen" verletzt worden, sagt Bente Opitz von "Lützerath lebt".
Die Polizei nannte keine Zahl verletzter Demonstranten und Aktivisten, bestätigte aber, dass am Samstag neun Demonstranten mit Rettungswagen in Krankenhäuser gebracht worden seien. Lebensgefahr habe nicht bestanden. Zur Verifizierung hat der WDR vier angrenzende Krankenhäuser kontaktiert. Eine Bestätigung, dass dort lebensgefährlich verletzte Demonstrierende eingeliefert wurden, gab es nicht.
Mehr als 70 verletzte Beamte
Nach Angaben der Polizei Aachen wurden bei dem Einsatz am Samstag mehr als 70 Beamte verletzt - allerdings nicht nur durch Einwirkung von Aktivisten, sondern zum Beispiel, weil sie im Schlamm mit dem Fuß umgeknickt seien. Zwölf Menschen seien in Zusammenhang mit gewalttätigen Aktionen fest- beziehungsweise in Gewahrsam genommen worden.
Ringen um Deutungshoheit
Polizeiwissenschaftler Rafael Behr
Polizei und Aktivisten schieben sich nun gegenseitig die Schuld dafür in die Schuhe, dass die Lage am Samstag derart eskaliert ist. Für den Polizeiwissenschaftler Raphael Behr ist das der Kampf um die Deutungshoheit der Ereignisse: "Es sind Legitimationsversuche von beiden Seiten. Wir wissen noch nicht genau oder nicht detailliert, was genau in Bildern auch beweisbar ist. Aber wir merken im Moment, dass beide Gruppen bemüht sind, das, was sie getan haben, zu erklären und auch zu legitimieren - zumindest moralisch und die Polizei auch rechtlich", sagte er dem WDR.
Gewaltexzesse in kollektiver Form hat Behr nicht beobachtet. Es gebe aber tatsächlich Situationen, wo die Polizei nicht mehr anders kann, als gewaltvoll vorzugehen - wenn nämlich Aufforderungen nicht beachtet würden. Das sei an der Abbruchstelle so gewesen: "Dann muss die Polizei körperlich vorgehen. In dieser Dynamik kann es natürlich passieren, dass nicht alle regelkonform arbeiten - zum Beispiel nicht alle mit dem Schlagstock auf die Oberschenkel schlagen, sondern auch mal auf den Kopf. Das passiert, das ist nicht intendiert von der Einsatzleitung und es ist auch nicht entschuldbar."
Reul fordert konkrete Belege für Polizeigewalt
NRW-Innenminister Hertbert Reul
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) empfahl den Aktivisten im WDR, präzise zu sagen, wer von wem wann verletzt worden sei: "Und dann wird dem nachgegangen. Wenn Polizisten Fehler machen, wird das aufgeklärt. Aber dann muss das auch angezeigt werden, dafür gibt es auch Gerichte." Es gebe genug andere Möglichkeiten, als pauschal Gerüchte in die Welt zu setzen.
Und er verteidigte am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Anne Will" das Vorgehen der Polizei: Sie habe "hochprofessionell" gearbeitet. Er werde jeden Fall von unangemessener Polizeigewalt untersuchen lassen. Man habe "ein, zwei Filme im Netz gesehen, wo wir sagen: Das sieht nicht gut aus".
Hier sei vorsichtshalber auch Strafanzeige gegen beteiligte Polizisten gestellt worden. Es sei aber nicht so, als wären bei der Demo massenhaft "wild gewordene Polizisten" unterwegs gewesen. Von den Veranstaltern der Demo hätte er sich gewünscht, sich klar von Gewalt zu distanzieren, aber das sei nicht geschehen.
Nancy Faeser
Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) verurteilte die Gewalt gegen Polizeikräfte in Lützerath. "Die vielen verletzten Polizistinnen und Polizisten sind eine bittere Bilanz dieses Einsatzes", erklärte Faeser am Montag in Berlin. Für Gewalt gegen Polizisten gebe es "keinerlei Rechtfertigung". Faeser kündigte an, gegen Gewalttäter werde "konsequent ermittelt".
Kritik von Journalistengewerkschaft
Die Journalistengewerkschaft DJU zog eine überwiegend negative Bilanz in Sachen Pressefreiheit bei der Räumung. Sprecher Jörg Reichel sagte, der zeitweise Zwang zur polizeilichen Akkreditierung, der auch zur intransparenten Datenbankabfrage genutzt worden sei, die Körperverletzungen durch RWE Security und die Polizei sowie das teilweise schikanöse Verhalten der Einsatzkräfte seien wesentliche Einschränkungen der Pressefreiheit.
Auch sei Journalisten zeitweise der Zugang zu Hallen im Dorf verwehrt worden, während es dort mutmaßlich zu fehlerhaftem und gefährlichem Verhalten durch die Polizei kam. Unabhängige Berichterstattung sei aufgrund der fehlenden Transparenz nicht möglich gewesen.
Einschätzung von WDR-Reportern
Keine einheitliche Einschätzung liefern auch die WDR-Reporter, die vor Ort in Lützerath waren. Thomas Wenkert fand den Polizeieinsatz insgesamt "verhältnismäßig", schränkte aber ein: "Es gab natürlich auch Bilder, wo man danach fragen muss, war es berechtigt, mit Demonstranten und Aktivisten so umzugehen." Die meisten WDR-Reporter wurden nicht in ihrer Arbeit behindert. Richard Derichs vom WDR-Studio Aachen empfand die Zusammenarbeit mit der Polizei insgesamt "als kompetent, höflich und stets lösungsorientiert" - bis auf eine Ausnahme: "Ich wollte ein Handyfoto machen vom Besuch des Aachener Polizeipräsidenten Dirk Weinspach an einem Zaun, wo auch andere Fotografen waren. Dabei schnauzte mich ein Mitarbeiter Weinspachs an, ich solle verschwinden und schubste mich zurück, obwohl ich bereits in der Rückwärtsbewegung war."
Die Geschehnisse von Lützerath - sie werden noch lange für Diskussionen sorgen.