Gewalt-Vorwürfe nach Lützerath-Demo: Was darf die Polizei?
Stand: 16.01.2023, 18:08 Uhr
Der Staat erlaubt der Polizei, Gewalt anzuwenden - aber wie weit darf sie gehen? Und wie bilanziert man nach einer Demo wie in Lützerath objektiv das Geschehen? Jurist und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes im Interview.
Zwei Tage nach den Zusammenstößen bei der Demonstration in Lützerath ist die Situation weiter unklar: Wie viele verletzte Polizisten gab es, wie viele Demonstranten? Beide Seiten werfen sich vor, die Lage durch Gewalttaten angeheizt zu haben. Während für Aktivisten als "Normalbürger" die allgemeinen Rechte in Bezug auf Körperverletzung oder Nötigung gelten, besitzen Polizeibeamtinnen und -beamte das staatliche Gewaltmonopol und haben somit Sonderrechte. Daher stellt sich die Frage nach dem harten Einsatz der Polizei und der Verhältnismäßigkeit der Mittel.
Thomas Feltes ist Jurist und Polizeiwissenschaftler. Er leitete bis 2019 das Institut für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum.
WDR: Herr Feltes, wie bewerten Sie den Polizeieinsatz in Lützerath? Was haben Sie gesehen?
Thomas Feltes: Generell besteht das Problem, dass man oft nur Ausschnitte von problematischen Ereignissen sieht. Es gab meiner Ansicht nach aber einige Situationen, in denen Beamtinnen und Beamte die zulässigen Grenzen eindeutig überschritten haben.
WDR: Von diesen Grenzen war dieser Tage oft die Rede. Wo genau liegen die?
Feltes: Die Grenzen sind dort, wo die eingesetzten Mittel nicht mehr verhältnismäßig sind im Vergleich mit dem, was der Einsatz erreichen soll. Wenn versucht wird, eine Polizeikette zu durchbrechen, darf man sehr wohl mit unmittelbarem Zwang und auch mit Schlagstöcken versuchen, das zu verhindern. Aber man darf nicht mit Schlägen reagieren, die geeignet sind, schwerste Verletzungen hervorzurufen, etwa mit einem Schlagstock ins Gesicht oder in die Nierengegend.
Kriminologe Thomas Feltes
WDR: Nehmen wir ein Beispiel: Es gab eine Szene, wo eine Gruppe Polizisten sich sammelt und dann schreiend auf Aktivisten zurennt und dort Personen körperlich angeht. Angenommen, es hätte in diesem Fall vorher einen Steinwurf aus der Gruppe heraus gegeben: Wäre das Verhalten der Polizei gerechtfertigt gewesen?
Feltes: Selbst wenn das der Fall gewesen wäre, muss die Polizei versuchen, gezielt den Steinewerfer zu isolieren und ihn festzunehmen. Auf dem Video, das ich gesehen habe, sah es allerdings wie eine Maßnahme aus, um Menschen zu erschrecken. Es sah aus, als sollten sie dazu gebracht werden, das Gelände zu verlassen, aus Angst davor, Opfer von Polizeigewalt zu werden. Das ist eindeutig unzulässig.
WDR: Wie genau sind die möglichen Reaktionen der Polizei in solchen Fällen definiert oder vorgeschrieben?
Feltes: Im Polizeigesetz ist nur der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an sich genannt. Es gibt aber keine Liste oder Tabelle, welche Maßnahmen in welchen Ausnahmesituationen zulässig sind. Das müssen im Zweifel die Gerichte entscheiden.
WDR: Und wer entscheidet letztendlich, was verhältnismäßig ist? Die Beamten während des Einsatzes?
Feltes: Jeder Polizeibeamte lernt in seiner Ausbildung, dass man immer genau den Zweck und das Ziel des Einsatzes betrachten muss. Die Frage lautet: Steht das, was ich möglicherweise anrichte, noch im Verhältnis zum erreichten Zweck? In Lützerath ging es ja im Grunde darum, Menschen davon abzuhalten, auf ein Privatgelände zu gelangen. Da geht es um privatrechtliche Ansprüche, es gibt keine unmittelbare Gefahr für Leib oder Leben. Polizeiliche Maßnahmen müssen sich daher meiner Meinung nach an der untersten Grenze dessen bewegen, was möglich ist. Das heißt: Alles, was zu schweren Verletzungen führt oder führen kann, ist unzulässig.
"Alles, was zu schweren Verletzungen führt, ist unzulässig"
WDR: Seit zwei Tagen gibt es Diskussionen um die Frage, wie viele Menschen verletzt wurden. Polizei und Aktivisten werfen sich gegenseitig die Verbreitung von Fehlinformationen vor.
Feltes: Wir werden wohl nie genau erfahren, wie viele es gewesen sind. Es ist ganz klar, dass einige Verletzte das weder selbst anzeigen werden noch dass sie Wert darauf legen, dass sie über einen Krankenhausaufenthalt identifiziert werden können. Denn dann müssen sie damit rechnen, dass ihnen ein Verfahren wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt droht.
WDR: Weil in solchen Fällen oft die Polizei am längeren Hebel sitzt?
Feltes: Das ist ein ganz großes Problem. Ich habe mehrere Fälle auf dem Schreibtisch, die genau so abgelaufen sind: Es soll angebliche Widerstandshandlungen gegeben haben, aber vorher hat die Polizei selbst Grenzen überschritten. Nur ist das hinterher schwer feststellbar. Es steht Aussage gegen Aussage, und es gibt nur in seltenen Fällen Beweismittel. Zufälligerweise war dann in vielen Fällen die Bodycam nicht eingeschaltet oder die Aufnahmen sind hinterher aus Versehen gelöscht worden. Das alles ist unbefriedigend und muss vom Innenministerium dringend geändert werden. Etwa, indem man Bodycam-Aufnahmen sofort hochladen und archivieren muss. Da gibt es erheblichen Nachholbedarf.
WDR: Was schlagen Sie vor, um die Situation bei solchen Demos in Zukunft zu verbessern?
Feltes: Es sollte unabhängige Beobachter geben, die hinterher einen entsprechenden Bericht erstellen. Ein Muster dafür wären die unabhängigen Wahlbeobachter der OSZE, die sich anschauen, ob Wahlen nach bestimmten Vorschriften ablaufen. Oder nehmen Sie die Spielbeobachter bei Risikospielen im Fußball, die der DFB einsetzt. So etwas könnte man entsprechend auch bei Demos machen und dann vielleicht noch eine Drohne einsetzen, um das Geschehen insgesamt zu beobachten.
Das Interview führte Ingo Neumayer.