Selbst Höcke, Weidel und Chrupalla seien nicht so schlimm wie Donald Trump: Kein AfD-Politiker habe bisher seine Anhänger indirekt angestiftet, mordend durch den Berliner Reichstag zu ziehen, schrieb mir nach der Europawahl ein Bekannter aus den USA. Trump als vermeintlicher "Trost" für uns Deutsche nach der Europawahl - so weit ist es gekommen.
"Mich beruhigt das herzlich wenig", schrieb ich zurück. "Im Gegenteil: Zu den Europa-Wahlsiegern Le Pen, Kickl, Wilders und Weidel kommt womöglich am 5. November auch noch Donald Trump dazu. Ein transatlantischer Alptraum!!"
Auch einige Freunde aus NRW versuchen sich selbst zu beruhigen. Ihr Argument: Die AfD feiere vor allem im Osten Triumphe. In unserem bevölkerungsreichsten Bundesland NRW seien sie hinter den Grünen gerade mal auf Platz vier gelandet. Gilt jetzt also:
Alles halb so schlimm?
Nein! Mich überzeugen diese Beruhigungspillen herzlich wenig. Vor allem, wenn ich auf den Norden meiner Heimatstadt Essen blicke, an den Stadtgrenzen zu Oberhausen und Bottrop.
Tatsache ist: In Essens sozialen Brennpunkten herrschen thüringische Politik-Verhältnisse. In fünf Stadtteilen ist die AfD nach dieser Europawahl die stärkste Partei. Die AfD vor CDU und SPD! In zwölf von fünfzig Essener Stadtteilen hat die AfD über 20 Prozent erzielt.
Meine Heimat wird mir fremd
Es erschreckt mich. Aber überrascht es mich auch? Nein!
Denn ich habe den sozialen Abstieg des Essener Nordens kontinuierlich mitverfolgt. Während meiner Korrespondentenzeit in Nairobi, Washington und Brüssel lautete mein erstes Urlaubs-Ziel immer "Bahnhof Dellwig-Ost" - nur wenige Fußminuten entfernt von meinem Elternhaus am Donnerberg. Den Koffer die Donnerstraße entlang gerollt - schon war ich da. Das Wahllokal "Donnerwetter" gleich um die Ecke.
Wohlgemerkt: Das war zu den Zeiten, als es die heutige AfD noch gar nicht gab. Sie war damals eine Professorenpartei der Euroskeptiker. Ihren Wortführer und Ex-BDI-Chef Henkel sah ich regelmäßig im EU-Parlament. Aber der Rechtsdrift bahnte sich schon damals an. In der Partei. Und in meinem Heimat-Stadtteil.
Die zunehmende Verängstigung, Verunsicherung und Abkehr von der SPD spüre ich schon seit vielen Jahren bei den Menschen, die morgens an den Bahnhöfen Dellwig und Dellwig-Ost in die S-Bahnen stiegen, um in die Nachbarstädte zu pendeln. Ich erinnere mich genau: Jahrelang guckten sie von den Dellwiger Bahnsteigen auf Berge von Schrott. Nur wenige Meter von den Schienen entfernt.
"Afrika-Straße" im Essener Norden
"Das Schmuddel-Gewerbegebiet", schrieb die WAZ. Autowracks und Kompressoren, aus denen Öl und Chemikalien im Boden versickerten. Computerschrott. Über 800 abgewrackte Kühlschränke. Kühltruhen und zerlegte Waschmaschinen. Fragmente von Fernsehern. Dazwischen junge, tatkräftige Männer aus Nigeria, Gabun, der Elfenbeinküste und dem Senegal. Sie arbeiteten im Akkord, um die Schrottberge auf LKW zu verfrachten. Meine Dellwig-Besuche hatten jahrelang etwas Surreales: Ich kam aus Kenia in den Essener Norden und fühlte mich plötzlich wieder wie in Afrika.
Die Dellwiger Donnerstraße hieß im Volksmund nur noch "Afrika-Straße". Dellwig war über ein Jahrzehnt lang in der Hand der "Nigeria-Connection". Immer häufiger erlebte ich bei meinen Besuchen Großrazzien. Der Polizeihubschrauber "Hummel" am Himmel über Dellwig - die flüchtenden Nigerianer fest im Blick. Polizeihundertschaften, Feuerwehr, Johanniter, die einen Stand mit Kaffee und Schokoriegeln für die Einsatzkräfte aufbauten. Szenen wie aus einem Tatort.
SPD-Politiker wechseln zur AfD
Vor zehn Jahren war mir klar: Das geht politisch nicht gut. Eine Zeitbombe. Immer mehr SPD-Ortspolitiker resignierten. In Dellwig, im gesamten Essener Norden. Viele traten aus der Partei aus, prophezeiten "die SPD wird zur Sekte".
Es war nur eine Frage der Zeit, bis der erste zur AfD wechseln würde. Sein Name: Guido Reil, Steiger, jahrzehntelang SPD-Mitglied. Die New York Times porträtierte kurz vor der letzten Europawahl den ehemaligen Stadtrat aus dem Essener Norden, der das Scheitern der Flüchtlingspolitik anprangerte und großmäulig ankündigt, das Ruhrgebiet von Brüssel aus zu "retten".
"It's the migration, stupid!"…
…hätte Bill Clinton die Kern-Ursache für den Rechts-Sog im Ruhrgebiet auf den Punkt gebracht. Die Flüchtlingskrise vertieft die soziale Spaltung in unseren Städten. Sie macht den "Sozialäquator" zwischen dem Essener Norden und Süden noch trennender als es die A40 je konnte. Gespalten sind in dieser Beziehung mittlerweile alle Großstädte in NRW. Besonders krass jene, von denen wir es am wenigsten vermuten. Zum Beispiel das erzkatholische Paderborn.
In der Grundschule im Paderborner Brennpunkt-Stadtteil Kaukenberg haben 95 Prozent der 216 Jungen und Mädchen ausländische Wurzeln. Ich bewundere den engagierten Schulleiter und sein Kollegium. Die Kaukenberg-Grundschule gehört dem Netzwerk "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage" an. Ähnlich engagiert und innovativ erlebe ich auch meine ehemalige Reuenberg-Grundschule in Dellwig, die als erste im Essener Norden ein "Natur-Klassenzimmer" unter freiem Himmel eingerichtet hat. Aufgefallen ist mir bei meinen Reisen durch das Ruhrgebiet auch die Begrüßungswand der Grundschule im Mülheimer Dichterviertel. In 16 Sprachen steht dort: "Herzlich willkommen".
Die Erstklässler haben Entwicklungsunterschiede von bis zu vier Jahren, über die Hälfte der Kinder sprechen zu Hause kein Wort Deutsch. Wie die Lehrerinnen und Lehrer an diesen Schulen individuelles Lernen ermöglichen und Bildungsrückstände minimieren, grenzt für mich an ein Wunder. Ich bewundere auch die Gelassenheit von Erzieherinnen, die sich von einem sechsjährigen syrischen Jungen in der Kita anhören müssen, selbstverständlich pinkele er nur im Stehen. Und als Junge lasse er sich von einer Frau ohnehin nichts sagen. Er bleibe Stehpinkler, basta. Die Erzieherinnen sind geduldig konsequent geblieben.
Integration fast nicht mehr möglich
Doch trotz des herausragenden Engagements in vielen Schulen, Arztpraxen, Jobcentern und Ausländerämtern: Integration ist nur noch ansatzweise möglich. Es fehlt an Wohnraum und Kitaplätzen, an Ärzten und Lehrern. Als ich vor kurzem mit Landräten und Bürgermeistern ländlicher NRW-Kommunen sprach, äußerten mehrere von ihnen die Angst, dass es in Zukunft zu Gewaltexzessen kommt.
Klar ist: wenn die nächsten Bundestagswahlen nicht ein Triumph für Weidel und Wagenknecht werden sollen, müssen Berlin und Brüssel jetzt handeln. Um es an einem Punkt konkret zu machen: Straffällige Gewalttäter müssen abgeschoben werden, auch in Kriegsgebiete wie Afghanistan und Syrien. Schweden zeigt, dass das zwar schwierig, aber prinzipiell möglich ist. In Schweden, Dänemark und Österreich ist die Zahl von Asylbewerbern rückläufig. Warum nicht bei uns?
Ultra-Rechte auf dem Vormarsch
Meine Sorge: Wenn die Zahl der Migranten in der EU insgesamt weiter steigt, werden offene Schengen-Grenzen Geschichte sein. Die Ultra-Rechten sind auf dem Vormarsch: Wir brauchen bloß über die noch offenen Grenzen in die Niederlande, nach Belgien, Frankreich, Österreich und Italien zu sehen. Geht dieser Trend weiter, werden wir Europa nicht mehr wiedererkennen. Das müssen wir verhindern.
Nicht verhindern aber sollten wir den Parteitag der AfD in der Essener Grugahalle. So sehr mir dieses Treffen der Auschwitz- und SS-Relativierer zuwider ist und so sympathisch ich es finde, dass meine Heimatstadt ein Zeichen setzen will, so unklug ist es, die AfD durch nachträgliche Miet-Vertragskündigungen zum Märtyrer machen zu wollen.
Dass die AfD in fünf Essener Wahlbezirken auf Platz 1 liegt, ist desaströs genug.
Was meinen Sie? Warum hat die AfD bei der Europawahl im Essener Norden so stark abgeschnitten? Lassen Sie uns darüber diskutieren! In den Kommentaren auf WDR.de oder auf Social Media.
Kommentare zum Thema
Nachdem ich das erste Mal mit einer netten Arbeitskollegin aus Essen meine Mittagspause verbracht habe, sagte mir eine andere Essenerin: "Die kommt aus Katernberg." Was sagt der Wohnort über einen Menschen aus? Sie war einfach ein freundlicher und fröhlicher Mensch. Für Menschen aus dem nördlichen Ruhrgebiet sind solche Aussagen normal. Was macht das mit den Menschen? Man sollte schon seine eigenen Vorurteile überdenken, bevor man mit dem Finger auf die der anderen zeigt. Nichtsdestotrotz bin ich ende Juni in Essen!
Australien hat 2013 das Nauru-Modell erfunden, entspricht Ruanda-Modell. Merkel hat das Gegenteil favorisiert, die Willkommenskultur. Ein Jahrzehnt in die falsche Richtung gelaufen und das Ergebnis sieht man auch im Essener Norden. Immerhin schwenkt die CDU nach einem Jahrzehnt um und ist für eine Drittstaatenlösung, was in etwa dem Nauru--/Ruanda-Modell entspricht. Das Original der Nauru-Variante kann man bei Wikipedia unter „Operation Sovereign Borders“ finden. SPD und Grüne haben ins Programm zur EU-Wahl geschrieben, dass alle mit positiven Asylbescheid auch in Deutschland bleiben dürfen. Falls sie lebend die Schengen-Grenzen erreicht haben, Schlepperreisen auf eigene Kosten und eigenes Risiko. Kein Wunder, dass SPD-Wähler dann zur AfD überlaufen; das Ruhrgebiet als „Herzkammer der Sozialdemokratie“ ist Geschichte und Grüne haben recht stabil ihre Stammwähler.
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