"Wählt ruhig den Irren vom Bosporus! Dann bleibt die EU von der Türkei verschont."
Diesen unsäglichen Aufruf las ich bei der letzten Türkei-Wahl 2018. In einer Brüsseler Kneipe - mit Filzstift auf den Tisch gekritzelt. Dieselbe Aufforderung an die türkischen Wähler und Wählerinnen kursiert jetzt wieder auf Twitter.
Präsident Erdoğan macht es der EU leicht, "Nein" zu sagen
2020 war ich zwei Wochen in Istanbul und habe mich mit zahlreichen türkischen Journalisten getroffen. Ich war schockiert über die Repressionen, denen sie täglich ausgesetzt sind. Auch für die internationalen Auslandskorrespondenten in Istanbul und Ankara wird es immer schwerer zu berichten. Sie finden kaum noch Interviewpartner, die den Mut haben, offen zu sprechen. Der Türkei-Korrespondent der SZ, den ich in Istanbul in der Nachbar-Wohnung traf, saß buchstäblich auf gepackten Koffern - jederzeit mit seiner Ausweisung rechnend.
Angenommen, Kılıçdaroğlu wird neuer Präsident...
Stellen wir uns einen Moment das Unwahrscheinliche vor: Erdoğan verliert die Stichwahl am 28. Mai und akzeptiert seine Niederlage.
Der neu gewählte Präsident Kemal Kılıçdaroğlu löst zügig seine Wahlversprechen ein: Er lässt politische Gefangene frei, regierungskritische türkische Journalisten sitzen wieder in der Redaktion und nicht mehr im Knast. Nehmen wir an, Ankara respektiert in Zukunft die demokratischen Standards, die Unabhängigkeit von Justiz und Presse. Stellen wir uns einen Moment vor: Erdoğans Nachfolger bekämpft systematisch Korruption und Vetternwirtschaft, unterstützt die EU-Sanktionen gegen Putin, kündigt die Ölverträge mit Russland und betrachtet sich nicht mehr als Drehscheibe für Moskau. Für Brüssel würde das bedeuten: Die nützliche Ausrede der "Idiot vom Bosporus" regiert, hätte ausgedient.
60 Jahre Heuchelei und Hinhalten
Zum ersten Mal müssten sich Deutschland, Frankreich und alle anderen 25 EU-Mitglieder ernsthaft damit auseinandersetzen, was die Türkei seit über 60 Jahren hat: Die Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der EU!
Seit Jahrzehnten hat Brüssel nicht den Mut der Türkei zu sagen: Wir haben Euch 1963 zu viel versprochen. EU-Gründerstaaten wie Frankreich könnten ihre grundsätzlichen Vorbehalte gegen die Aufnahme von rund 85 Millionen überwiegend muslimisch geprägten Türken in die EU und in den Schengen-Raum nicht mehr hinter der Kritik an dem Autokraten vom Bosporus verstecken.
Nach sechs Jahren Korrespondenten-Erfahrung in Brüssel bin ich skeptisch, dass die EU nach dieser Stichwahl in der Türkei endlich tut, was sie seither konsequent vermieden hat: Eine sehr klare und offene Beziehung zur Türkei aufzubauen. Ganz unabhängig davon, wie der zukünftige Präsident heißt.
Zwischen der Türkei und der EU liegt ein kultureller Graben
Dahinter steht eine grundsätzliche Unsicherheit: Die EU weiß nicht, wer zu ihr gehören soll und wer nicht.
Da sind wir beim heiklen Thema Religion und ihrem Einfluss auf das Leben und Denken der Menschen. Entscheidet die kulturell-religiöse Prägung eines Staates darüber, ob er in die EU aufgenommen werden kann? Darüber wird in der EU nicht offen diskutiert.
"Über Kultur spricht man nicht gern", schrieb bereits vor Jahren sehr treffend der ehemalige Brüssel-Korrespondent des WDR Kurt Gerhard zum Thema "EU-Beitrittswunsch der Türkei". In diesem Zusammenhang erwähnte er, dass europäische Gründerväter wie Konrad Adenauer und Robert Schumann überzeugte Christen waren.
Kein EU-Spitzenpolitiker würde das heute in dieser Klarheit formulieren. Aus Angst vor einem Shitstorm. Der letzte der es wagte, war 2007 Frankreichs Präsident Sarkozy. Die Paris-Position lautet damals wie heute: Die Türkei gehört geographisch, historisch und kulturell nicht zu Europa.
Dieser kulturelle Graben ist der entscheidende Grund für das überaus deutliche französische Nein der EU zum Türkei-Beitritt. Ein Graben, der sich bei dieser Wahl auch durch die Türkei selber zieht: zwischen den Erdoğan-Gegnern und denen, die ihm aufgrund ihrer konservativ-religiösen Sozialisation ihre Stimme geben. "Nicht nur trotz, sondern auch wegen seines autoritären Führungsstils", wie die in der Türkei geborene Journalistin Alev Doğan schreibt.
Rumänien und Bulgarien sind für die EU belastend genug
Tatsache ist, einflussreiche EU-Staaten wie Frankreich, Italien und Spanien wollen die Türkei nicht als Vollmitglied in ihren Schengen-Reihen. Die Türkei in der Nato - das ist wegen der geostrategischen Lage am Schwarzen Meer für die meisten EU-Staaten gerade noch ok.
Es reicht, dass man die Europameister der Korruption namens Rumänien und Bulgarien in die EU aufgenommen hat. Hinzu kommt: "Illiberale Demokraten", wie Ungarns Ministerpräsident Orban sind schon belastend genug. 'Man muss die Situation nicht durch eine EU-Mitgliedschaft der Türkei noch komplizierter machen!', so der Tenor vieler Gespräche, die ich in Brüssel geführt habe.
Ich teile diese Position. Eine privilegierte Partnerschaft mit der Türkei, wenn Präsident Erdoğan eines Tages Geschichte ist, das ist für mich durchaus denkbar. Eine enge Partnerschaft, wie mit Norwegen oder der Schweiz zum Beispiel. Oder wie hoffentlich bald mit Großbritannien. Die EU muss mit Blick auf Ankara ihre Grenzen kennen und dazu stehen. Die Türkei hat Ehrlichkeit aus Brüssel verdient. Und einen anderen Präsidenten in Ankara!
Was meinen Sie, sollte die Türkei EU-Mitglied werden? Lassen Sie uns darüber diskutieren! In den Kommentaren auf WDR.de oder auf Social Media.
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Kommentare zum Thema
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Die Ex-Justizministerin Leutheuser-Schnarrenberger stellt in Verbindung mit der Ampelpolitik in Springers Bild die Frage: Was ist bloß aus dem gesunden Menschenverstand geworden ? Nicht nur sie stellt sich diese Frage, sondern mindestens die Hälfte der Bevölkerung. Die BRD hat aktuell wohl die dümmste Bundesregierung, weil besonders die grüne Sekte völlig wahnhaft agiert , dadurch das ganze Land terrorisiert, so daß die Ampel innert 1 Jahr auf historische Wahlumfragetiefstswerte der BRD abstürzt. Man schaue sich nur mal die Qualifikation des Spitzenpersonals an; häufigst außerhalb der Partei gescheitert !.
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