WDR: Schauen wir auf das Thema Wirtschaftssanktionen gegen Syrien. Würde das Aufheben der Sanktionen Machthaber Assad helfen oder doch den betroffenen Menschen?
Annalena Baerbock: Wir sind in einer Situation, wo man sich das Ausmaß dieser Katastrophe kaum vorstellen kann. Minütlich erreichen uns neue Todeszahlen. Wir wissen nicht, wie viele Menschen überhaupt noch unter den Trümmern liegen. Insbesondere in Nordsyrien ist der Zugang alles andere als einfach, um nicht zu sagen katastrophal, weil das syrische Regime in der Vergangenheit die Grenzübergänge geschlossen hat. Humanitäre Hilfe ist in der Vergangenheit dort nicht reingegangen. Zusätzlich hat das syrische Regime genau diese Regionen immer wieder bombardiert.
Die Wirtschaftssanktionen richten sich gegen das Regime, das seit Jahren eine Terrorisierung seiner eigenen Bevölkerung betreibt und keine humanitäre Hilfe ins Land lässt. Deswegen sind nicht die Sanktionen gegen das Regime das Problem, sondern dass das Regime die Hilfe in der Vergangenheit nicht ins Land gelassen hat. Wir versuchen in den letzten Tagen alles, damit weitere Grenzübergänge geöffnet werden. Wir brauchen aber weiteren Zugang und darüber habe ich zum Beispiel gestern intensiv mit meinen türkischen Kollegen gesprochen, wie wir jetzt dringend diese Hilfe nach Nordsyrien bekommen.
WDR: Sie sagen, diese Wirtschaftssanktionen gehen gegen Damaskus und gegen Assad und seine Regierung. Aber auch Baumaschinen kommen zum Beispiel nicht in das Land, um zu räumen. Wird in so einer Situation die Einhaltung der Sanktionen geachtet oder kann es sein, dass man mal ohne Probleme so einen Bagger über die Grenze kriegen kann?
Annalena Baerbock: In so einer Situation tun wir alles dafür, Menschenleben zu retten und das haben wir auch schon davor getan. Wir sind der zweitgrößte Geber für Syrien und die Menschen in Syrien, die seit Jahren unter diesem furchtbaren Regime leiden. Wenn ein Regime sich in den Kopf gesetzt hat, seine eigene Bevölkerung in dieser Situation nicht zu versorgen, dann liegt das nicht daran, dass wir keine Bagger über die Grenzen bekommen, sondern daran, dass das syrische Regime diese Grenze nicht öffnet. Und in diesem Moment wollen wir alles Material, das Menschenleben rettet, und dafür braucht man schweres Gerät, über die Grenze bringen. Das betrifft lebensnotwendige Maßnahmen für die Menschen. Dieses Gerät muss jetzt nach Syrien kommen.
WDR: Wir haben von der türkischen Grenze gehört, dass wohl Menschen nach Syrien rüberkommen. Wie ist denn da im Moment die Lage? Sie sagen, sie sind dran. Ab wann werden wohl die Grenzübergänge geöffnet, dass mehr Hilfe ins Land kommen kann?
Annalena Baerbock: Wir hatten bisher die Öffnung des Grenzübergangs in Bab al-Hawa, der vom Erdbeben mit betroffen wurde. Nach unseren Informationen sind die Straßen wieder so repariert, dass dort wieder Hilfe über den Grenzübergang kommen kann. Wir versuchen mit allen möglichen diplomatischen Kontakten, dass wir weitere Grenzübergänge öffnen können. Ich habe heute Informationen, dass das an einzelnen Stellen bereits möglich ist. Aber die Lage ist dramatisch. Wir sehen ja die furchtbaren Bilder aus der Türkei, wie Menschen mit ihren bloßen Händen bei Minusgraden versuchen, ihre Angehörigen unter den Trümmern hervorzubekommen. Aus Nordsyrien haben wir viel weniger Informationen. Zum Glück gibt es einige Organisationen von den Vereinten Nationen oder aus Deutschland, wie die Malteser oder die White Helmets, die schon die ganze Zeit in Flüchtlingslagern und an den anderen Orten sind. Die unterstützen wir mit finanziellen Mitteln. Wir versuchen, jeden kleinen Strohhalm, den wir haben, zu greifen, denn es kommt hier auf Stunden an.
WDR: Stehen Sie mit Damaskus in irgendeiner Form in Verbindung?
Annalena Baerbock: Wir arbeiten mit diesem Regime nicht zusammen. Wir haben auch keine Botschaft in Syrien. Deswegen müssen wir andere Wegen gehen, wie in der Vergangenheit über die Vereinten Nationen. Wir nutzen jede Möglichkeit, damit die Hilfe vor Ort ankommen kann.
WDR: Wie können Sie gewähleisten, dass die Hilfe wirklich bei den Menschen ankommt und nicht bei Machthaber Assad? Das stelle ich mir schwierig vor.
Annalena Baerbock: Es ist auch schwierig. Deswegen muss man in so einer Situation immer schauen, dass sich wirklich die Hilfe an die richtet, die sie so dringend brauchen. Das Katastrophale in der jetzigen Situation ist, dass Assad in diesen Regionen genau diese Menschen vertrieben hat. Deswegen sind die in Flüchtlingslagern. Das Regime selber hat gar kein Interesse daran, diesen Menschen wirklich zu helfen. Deswegen gehen unsere Gelder direkt an die Hilfsorganisationen, die vor Ort sind, mit denen wir seit Jahren zusammenarbeiten. Weil Geld nach Damaskus zu überweisen, damit es dann woanders hinkommt, rettet eben nicht die Menschenleben, die wir hoffentlich überhaupt noch retten können.
Das Interview führte Andreas Bursche.