Angst auf die Straße zu gehen: Jüdisches Leben in NRW

Aktuelle Stunde 20.10.2023 UT Verfügbar bis 20.10.2025 WDR Von Daniela Rüthers-Becker; Michael Hoverath

Jüdische Gemeinden in NRW stehen unter Schock

Stand: 20.10.2023, 20:00 Uhr

Der Terrorangriff der Hamas auf Israel hat auch das Leben der Juden in NRW verändert. Viele fühlen sich zu Hause sicherer und meiden Veranstaltungen. Der Schock sitzt tief.

Bereits vor dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober waren Israelis an ein Leben unter ständiger Bedrohung gewohnt. Für in Nordrhein-Westfalen lebende Juden und Jüdinnen galt Ähnliches. Zumindest führten sie in ihren Gemeinden schon da ein Leben, das an sieben Tagen in der Woche unter Polizeischutz stand.

Juden in NRW empfinden größere Bedrohung

Dieses Bedrohungsempfinden ist jetzt noch gestiegen, seitdem die Terroristen der Hamas Israel überfallen haben und dabei mehr als 1.300 Menschen töteten.

Nach dem Holocaust, dem von Nazi-Deutschland verübten Massenmord an Juden, seien an einem Tag nie mehr Juden getötet worden, sagt Clemens Hötzel, Referent bei Sabra, einer von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf getragenen Servicestelle des Landes NRW für Antidiskriminierungsarbeit.

Terror sei man als Israeli und Jude leider gewohnt, aber die Tragweite dieses Terrorangriffs habe eine völlig neue Dimension. Das spürten auch in Deutschland lebende Juden. "Das belastet uns sehr. Das hat es so noch nicht gegeben", so Hötzel.

Wegen Angst vor Ausschreitungen mehr Sicherheitsmaßnahmen an Synagogen

Dementsprechend wird auch dieser Schabbat in den jüdischen Gemeinden NRWs anders begangen als in friedlicheren Zeiten. So wurden beispielsweise rund um die Kölner Synagoge die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt, berichtete Rafi Rothenberg, Vorsitzender der dortigen Jüdisch-Liberalen Gemeinde, dem WDR. Er hoffe, dass seine Gemeinde von Ausschreitungen wie etwa in Berlin verschont bleibe. Angesichts der jüngsten Geschehnisse wurden in der Gemeinde die Möglichkeiten des Austauschs verstärkt. Neben täglichen virtuellen Gottesdiensten gebe es derzeit auch wöchentlich ein längeres Gespräch, in dem die Mitglieder ihre Woche Revue passieren ließen und ihre Ängste, Sorgen und Hoffnungen äußern könnten.

Vor drei Jahren hatte Rothenberg noch von der "guten Nachbarschaft zwischen Juden und Muslimen" in Köln berichtet. Daran habe sich seines Erachtens nach nichts geändert. "Muslim heißt nicht gleich Hamas", so Rothenberg. Er hofft, dass seine Gemeinde bald wieder zum Normalzustand zurückkehren kann. "Wobei Normalzustand bei uns eben heißt, dass die Polizei vor der Tür steht."

Fehlendes Wissen beschäftigt Beratungsstellen

Die Mitarbeiter von Beratungsstellen wie Sabra in Düsseldorf oder Adira in Dortmund sehen sich derzeit mit vielen Wissensdefiziten über den Nahost-Konflikt konfrontiert, der vor allem in den Schulen des Landes zum Vorschein komme. Beide stehen im regen Austausch mit Lehrkräften in NRW, die sich bei ihnen erkundigen, wie sie den Konflikt im Unterricht aufarbeiten können.

Hanna Veiler, die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands (JSUD), findet es etwa "gerade wahnsinnig ernüchternd zu sehen, wie viele Menschen sich mit einer Terrororganisation solidarisieren". Auch auf Kundgebungen in Deutschland. Dabei beklage sie natürlich das große Leid der Palästinenser: "Auch ich finde es furchtbar, dass Kinder getötet werden, dass sie leiden. Aber was wir gerade sehen, ist, dass die Situation vereinfacht wird. Das ist ein wahnsinnig komplizierter Konflikt." Veiler vermisse bei vielen, die sich zum Thema äußern, das nötige Hintergrundwissen.

Micha Neumann von der Dortmunder Beratungsstelle Adira warnt vor einer "schnellen Feuerwehrpädagogik", die angesichts der aktuellen Krise als Workshop daherkomme. Es gehe darum "Gesprächsräume" zu öffnen. "Gerade für Jugendliche, die mit oft fragwürdigen Infos konfrontiert sind. Wir müssen langfristig und nachhaltig für Bildung sorgen", so Neumann. Man könne durchaus Israel kritisieren, so Veiler, müsse dabei aber eben beachten, dass alles, was die Hamas tut, die "Auslöschung Israels und damit eigentlich auch aller Jüdinnen und Juden" zum Ziel hat.

Jüdisches Leben in NRW soll sichtbar bleiben

Neumann weist darauf hin, dass man die Bekämpfung des Antisemitismus nicht allein bei Lehrkräften abladen dürfe: "Gefordert sind wir alle als Gesellschaft. Antisemitismus gibt es in allen Milieus." Sowohl in der jüdischen Gemeinde Düsseldorf als auch in der in Dortmund habe der jüngste Hamas-Terror Spuren hinterlassen.

Die Sorge steigt, dass Juden zur Zielscheibe des Hasses auf Israel werden. Micha Neumann, Leiter der Antidiskriminierungsstelle Adira

Angesichts vermehrter antisemitischer Vorfällen würden sich viele Gemeindemitglieder derzeit gut überlegten, wie sichtbar sie als Jude im Alltag sein wollten, so Hötzel.

Es wäre jedoch falsch, den Eindruck zu erwecken, dass nun alle Juden in Deutschland in Angst leben: "Es ist eine Abwägung - zwischen Sicherheitsbedenken und selbstbewusster Präsentation jüdischen Lebens in der Öffentlichkeit", so Neumann. Man sei derzeit einfach wachsamer. Den Gemeinden sei es aber wichtig, dass jüdisches Leben in Deutschland sichtbar bleibt und sich nicht vor dem Terror versteckt.

"Totaler Schockzustand" durch Ausmaß des Terrors

Porträt von Hanna Veiler

JSUD-Präsidentin Hanna Veiler

Was eine Herausforderung sei angesichts der jüngsten Geschehnisse : "Wir sind immer noch im totalen Schockzustand", sagt Hanna Veiler. Erst langsam setze die Erkenntnis ein, wie "furchtbar das Ausmaß des terroristischen Anschlags der Hamas war".

Die Situation für Jüdinnen und Juden ist weltweit, aber auch in Deutschland zunehmend kritisch. Hanna Veiler, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands

Immer, wenn in Israel etwas passiere, spürten Jüdinnen und Juden weltweit die Konsequenzen, sagt Veiler und verweist auf die jüngsten Anschläge auf eine Synagoge in Berlin: "Das Sicherheitsgefühl von Jüdinnen und Juden in Deutschland ist quasi gerade einfach nicht gegeben." Viele hätten Angst.

Das Gefühl der Bedrohung sei durch den Angriff auf Israel noch durch eine bedrückende Erkenntnis gestiegen. Man habe geglaubt, mit Israel gebe es dieses Refugium auf der Welt, in das sich Jüdinnen und Juden immer zurückziehen könnten: "Falls es zu schlimm in Deutschland wird, gibt es immer einen Ort, an den wir können", so Veiler. Dieses Gefühl sei nun gerade bei den Jüngeren "einer Art Perspektivlosigkeit" gewichen.