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Superjeilehit: Wie wird ein Karnevalssong zum Erfolg?
Stand: 15.02.2025, 06:00 Uhr
Schunkeln, Tanzen, in den Armen liegen: Karneval ohne die passende Musik ist undenkbar. Doch was macht einen Song zum Hit? Und wer hat dabei seine Finger im Spiel?
Von Ingo Neumayer
Der Dom steht, der Rhein fließt, die Jecken feiern, das Kölsch schmeckt, und vielleicht ist auch ein kleiner Flirt drin: Wer diese Themen mit einer schmissigen Melodie und einem Hauch Melancholie kombiniert und in mehr oder weniger korrektem Kölsch vorträgt, hat den Karnevalshit schon fast in der Tasche. Oder etwa nicht?
Nun, so einfach ist es dann auch wieder nicht. Denn im Gegensatz zu anderen Karnevalshochburgen wie Mainz oder Düsseldorf ist die musikalische Szene in Köln und Umgebung sehr groß und aktiv. Es gibt unzählige Bands, die sich dem Karneval verschrieben haben und während einer Session quasi nonstop unterwegs sind von einem Auftritt zum anderen.
Und auch die Zahl der Songs, die Jahr für Jahr neu veröffentlicht wird, ist imposant. Aus dieser Menge muss man erst einmal herausstechen. Aber wie?
"Loss mer singe": Die Hits von morgen heute hören
Lisa Löbach weiß, wie das geht. Die 26-Jährige gehört zum Team von "Loss mer singe" ("Lasst uns singen"), einer Veranstaltungsreihe, die sich im Kölner Karneval längst etabliert hat mit einem innovativen Konzept. Bei den "Loss Mer Singe"-Abenden, die inzwischen in circa 40 Kölner Kneipen stattfinden, gibt es nicht die ollen Kamellen zu hören, sondern die brandneuen Karnevalssongs, die eben erst erschienen sind.
"Neue Lieder entdecken, ein Gefühl dafür kriegen, was in dieser Session der nächste Hit werden könnte – das geht nur bei uns", sagt Löbach. Das Publikum erhält Zettel mit den Songtexten, um sich direkt in Stimmung zu singen, und am Ende wird abgestimmt, welcher der neuen Songs am besten gefallen hat.
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"Loss mer singe": Mit vollen Kehlen dabei
Heute schon hören, was morgen in aller Munde ist? Das klappt bei "Loss mer singe" seit Jahren. Der Song, der 2001 bei der ersten Ausgabe gewonnen hat, war "Superjeile Zick" von Brings. In den folgenden Jahren schafften es unter anderem "Viva Colonia", "Pirate", "Dä Plan", "Leev Marie" oder "Kölsche Jung" ganz nach oben - alles Lieder, die inzwischen kölsche Evergreens sind und bei kaum einer Karnevalsparty fehlen.
Mit dem Handy am Küchentisch aufgenommene Songs
Doch diese Perlen zu entdecken, ist nicht immer einfach und für Lisa Löbach mit viel "Trüffelschwein-Arbeit" verbunden. Sie hört pro Session zwischen 350 und 400 neue Karnevalssongs, 20 bis 40 davon kommen in die engere Auswahl. Und da gibt es durchaus Momente, wo der Spaß beim Musikhören geringer ausfällt. "Das ist nicht immer schön, wenn man schlecht produzierte Songs hören muss, die mit dem Handy am Küchentisch aufgenommen wurden", gesteht sie.
Dennoch kriegt jede Band, jede Sängerin und jeder Sänger eine faire Chance, wenn er oder sie sich bei "Loss mer singe" bewirbt. "Einfach eine Mail an info@lossmersinge.de schicken. Wir hören uns alles, was kommt, mindestens einmal an!"
Ob man eine gestandene Band mit großer Plattenfirma, Management und Promo-Agentur ist oder ein Newcomer, der alles erst einmal selbst organisiert, spielt keine Rolle. Entscheidend ist zunächst, ob der Song Lisa und den anderen in ihrem Team gefällt. Und dann sollte er spätestens zur Session in den Läden zu kaufen und auf den gängigen Streamingplattformen zu hören sein.
Songs sollten eine Geschichte erzählen
Aber worauf genau reagiert das Näschen von "Trüffelschwein" Lisa? Das Lied sollte in einer Kneipe funktionieren, sagt sie. "Eine Kneipe hat einen gewissen Geräuschpegel, und der Song muss irgendeinen Hook, einen Haken haben, an dem die Menge hängenbleibt und der Lust macht, mitzutanzen, zu singen, zu schunkeln und sich in den Armen zu liegen."
Aber auch der Inhalt spielt eine Rolle. Dass Kölsch gesungen wird, ist zwar keine Bedingung, aber dass die meisten Songs eine Verbindung zu Köln, zum Stadtleben und zur dortigen Kultur haben, steht außer Frage. Zudem achtet Löbach darauf, dass der Song eine Aussage mit sich bringt.
Stumpfe Partyhits, die vielleicht am Ballermann gut funktionieren, sind nicht so ihr Ding. "Mir ist wichtig, dass die Songs eine Message, ein Statement, eine Geschichte haben – und sei es nur, dass man nur über einen feuchtfröhlichen Abend in der Kneipe singt, an dem man jemanden kennenlernt."
99-Jähriger singt Karnevalslied gegen Rechts
Die wohl stärkste Geschichte unter den 22 Songs, die dieses Jahr bei "Loss mer singe" ins Rennen gehen, stammt von Ludwig Sebus und heißt "Die wiesse Duuv" ("Die weiße Taube").
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99 Jahre alt und immer noch jeck: Ludwig Sebus
Sebus ist ein Urgestein des Kölner Karnevals und stolze 99 Jahre alt. Er singt in dem Lied unter anderem über seine Kriegserfahrungen und darüber, dass man aufpassen muss, dass sich die Geschichte nicht wiederholt: "Bei uns es keine Plaatz für brunge Dreck" ("Bei uns ist kein Platz für braunen Dreck") heißt es mit Blick auf den Rechtsruck, den Deutschland gerade erlebt.
Damit steht der ruhige, melancholische Song beim "Loss mer singe"-Programm natürlich im Gegensatz zu Partysongs wie "Leider widder eskaliert" von Fiasko oder "Rakete" von Mätropolis. Doch es ist genau dieser Kontrast, der für viele den Reiz am Karneval ausmacht. "Die Mischung macht es einfach", sagt Löbach.
In der Zeit direkt nach der Pandemie hätten viele Bands mehr in die melancholische Richtung geschwenkt, inzwischen sei es wieder rockiger und partylastiger: "Es geht viel um Lockerheit, Spaß und Lebensfreude. Aber die stillen Lieder haben immer noch ihre Momente."
Welche Zutaten braucht es für den Karnevalshit?
Und manchmal gibt es sogar Songs wie "Tommi" von AnnenMayKantereit, die gar nicht explizit für den Karneval geschrieben wurden, aber trotzdem zu riesigen Sessionshits werden. Ein Lied, über das sich Lisa Löbach zunächst "furchtbar aufgeregt" hat: "Wie falsch kann man denn Kölsch singen? Hätte da nicht noch jemand drübergehen können, der der kölschen Sprache mächtig ist?"- so lautete ihre erste Reaktion.
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Zufälliger Karnevalshit: AnnenMayKantereit
Erst später habe sie erfahren, dass das wohl Absicht war und ein charmanter Versuch der Band, ihre eigene Interpretation der Sprache und des Kölner Lebensgefühls zu formulieren. Und wenn der Song heute irgendwo läuft, gibt es auch für die Expertin Lisa Löbach kein Halten mehr: "Ich kann es nicht genau erklären, aber inzwischen gröle ich auch aus voller Kehle mit und habe Gänsehaut."
Was also macht einen Karnevalssong zum Hit? "Ein Geheimrezept gibt es nicht", sagt Löbach zum Schluss. "Und irgendwie ist das auch das Schöne daran. Man kann nicht alles erklären, manchmal passieren die Dinge eben so, wie sie passieren."
Übrigens: Nicht nur in den Kölner Kneipen kann man neue Karnevalssongs hören. Wenn ihr keines der heißbegehrten "Loss mer singe"-Tickets ergattert habt, könnt ihr auch einfach das Radio einschalten. Bei WDR 4 läuft jeden Montagabend das "Jeck Duell". Dort werden insgesamt 44 Neuerscheinungen vorgestellt, über die die Zuhörerschaft abstimmen kann.
Unsere Quellen:
- Interview mit Lisa Löbach, Loss mer Singe
- Nachrichtenagentur dpa
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