Als Instrument der direkten Demokratie sind Bürgerbegehren in den vergangenen Jahrzehnten in NRW immer häufiger genutzt worden. Seit 1994 gibt es diese Möglichkeit der Abstimmung in NRW, zum 30. Jahresjubiläum zog der Verein "Mehr Demokratie" NRW am Mittwoch Bilanz.
Fast 1.000 Verfahren wurden in NRW in 30 Jahren von Bürgern auf die Beine gestellt, durchschnittlich 33 pro Jahr. Rund zehn davon münden jährlich in Bürgerentscheide, etwa ein Drittel ist am Ende erfolgreich.
Erst das Bürgerbegehren, dann der Bürgerbescheid
Wollen sich Bürger gegen geplante Projekte wehren oder auch dafür engagieren, können sie mit einem Bürgerbegehren Unterschriften Gleichgesinnter sammeln. Wie viele genau nötig sind, hängt von der Größe einer Stadt oder Gemeinde und den jeweiligen Vorschriften ab.
Sind genügend Unterschriften zusammengekommen, kann die Gemeindevertretung beschließen, sich dem Willen der Bürger zu beugen. Geschieht das nicht, kommt es zum Bürgerentscheid. Wird er genehmigt, dürfen alle wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger der Stadt oder der Gemeinde darüber abstimmen, ob das Vorhaben durchgeführt werden soll oder nicht.
Die meisten Bürgerbegehren wurden in den vergangenen 30 Jahren in Bonn durchgeführt, gefolgt von Essen, Bielefeld und Wuppertal. Schlusslichter in dem Ranking sind Köln, Mülheim und Paderborn. Am häufigsten drehten sich die Themen in NRW um Schule, Sportstätten, öffentliche Neubauten, Straßen und Fahrradinfrastruktur.
Neuester Fall: Schließung der Geburtshilfe in Dormagen
Jüngstes Beispiel ist die geplante Schließung der Geburtshilfe des Rheinland-Klinikums in Dormagen. Viele Anwohner halten das offenbar für falsch und wollen ein Bürgerbegehren im Rhein-Kreis Neuss starten. Die Kreisverwaltung muss prüfen, ob das Begehren zulässig ist. Im Anschluss wollen die Initiatoren die notwendige Anzahl an Unterschriften sammeln.
Nötig wären rund 20.000 Unterschriften aus dem gesamten Rhein-Kreis Neuss, um das erforderliche Quorum zu erreichen. Das Zustimmungsquorum legt fest, wie viele theoretisch Stimmberechtigte sich mindestens beteiligen müssen. Je nach Gemeindegröße sind das in NRW zwischen drei und zehn Prozent aller Stimmberechtigten. Wird das Quorum nicht erreicht, nützt auch eine faktische Mehrheit bei der Abstimmung nichts: Dann ist das Bürgerbegehren ungültig.
Geringere Quoren und mehr Beratung
Die Vorgabe eines Quorums führe häufig - in mindestens einem Drittel der Fälle - zu einem "unnötigen Scheitern" eines Bürgerbegehrens, sagte Achim Wölfel vom Verein "Mehr Demokratie" NRW am Mittwoch bei der Vorstellung der Bilanz. Die Aussichten, zwar eine Mehrheit für ein Begehren zu bekommen, aber am Quorum zu scheitern, halte viele Bürger - vor allem in größeren Städten - davon ab, überhaupt an einer Abstimmung teilzunehmen.
Ein weiterer Punkt, bei dem der Verein Verbesserungsbedarf sieht, sind die sehr kompliziert verfassten Regeln für die Vorbereitung und den Ablauf eines Verfahrens. Um alles richtig zu machen, damit nicht schon der Antrag wegen Fehlern als unzulässig abgewiesen wird, bräuchten Bürger deutlich mehr Beratungsstellen, sagte Wölfel.
Trotz aller Verbesserungswürdigkeit sei die Möglichkeit zu einem Bürgerbegehren aber ein wichtiges Instrument der Demokratie, betonte Wölfel. "Es befriedet unser System und kann ein Ventil sein, mit dem Unzufriedenheit bei den Menschen eingefangen werden kann."
Dazu sei es allerdings wichtig, dass die Möglichkeit eines Bürgerbegehrens auch "politikferne Schichten und Milieus erreicht", sagt der Demokratieforscher und Professor an der Universität Wuppertal Detlef Sack. Gemeinden und Initiatoren solcher Begehren müssten mehr in die Stadtteile gehen, "in denen Menschen leben, die nicht auf Rosen gebettet sind", und dort über ihr Anliegen informieren.
Demokratieforscher: Wichtiges Abstimmungsmittel
In einer Zeit, da politische Diskussionen zunehmend polarisierend geführt würden, sei das Bürgerbegehren ein wichtiges Mittel, um den Menschen die unmittelbare Möglichkeit zur Abstimmung über politische Anliegen zu geben, so Sack. Selbst, wenn das Anliegen am Ende nicht erfolgreich ist, hätten doch mehr das Gefühl, gehört und "nicht übervorteilt" worden zu sein.
Entscheidend dabei seien aber die begleitenden Maßnahmen vorab, sagt Sack: Öffentliche Dikussionsveranstaltungen, Debatten über die richtigen Maßnahmen und ihr Für und Wider, der Versuch, einen Kompromiss zu finden.
Riesenstreit um Nationalpark Egge
Ein weiteres Thema, das zuletzt mehrere Bürgerbegehren auslöste, ist die Diskussion nach einem zweiten Nationalpark in NRW. Sechs Regionen wären nach Einschätzung der Landesregierung geeignet. Vor allem die CDU und FDP aber stemmten sich jeweils in den Kreistagen dagegen. Per Bürgerbegehren stimmte eine Mehrheit in den Kreisen Paderborn und Höxter zuletzt gegen einen Nationalpark Egge in Ostwestfalen.
Naturschutzverbände wie BUND und NABU hatten eine "aggressive" Kampagne der CDU in Ostwestfalen beklagt, bei der "Falschnachrichten" verbreitet worden seien. Etwa sei behauptet worden, tausende Arbeitsplätze seien in Gefahr und das Betreten großer Teile der Egge werde verboten. Der CDU-Landrat des Kreises Höxter hatte den Bürgern vorab geraten, mit Nein zu stimmen, auf einem Plakat der CDU hieß es: "Nehmt uns nicht unsere letzten Freiheiten." .
Wenn gelogen wird, zum Beispiel in Sozialen Medien, dann müssten die Akteure eben genau in diesen Medien ebenfalls der Lüge bezichtigt werden, sagt Sack. Auch den lokalen Zeitungen komme da eine aufklärende Funktion zu
Auch AfD kann sich Bürgerbegehren zunutze machen
Was aber, wenn beispielsweise in einigen von der AfD dominierten Gemeinden Ostdeutschlands Bürgerbegehren zu rechtsextremistischen Anliegen benutzt werden? "Dass demokratische Verfahren von Extremen genutzt werden, gilt für die Geschäftsordnung des Thüringischen Landtags genauso wie für Bürgerbegehren", sagt Demokratieforscher Sack. Um so wichtiger sei die Frage, wie weit diese Instrumente genutzt werden von solchen, "die der Demokratie zugeneigt sind". Und auch da hänge es maßgeblich davon ab, wie gut das Thema begleitet werde.
Quellen:
- Pressekonferenz Verein "Mehr Demokratie" am 23.101.204
- Interview Prof. Detlef Sack, Uni Wuppertal