Opferberatungsstellen: Rassistische Gewalttaten werden brutaler
Stand: 11.06.2024, 16:02 Uhr
Dass die Zahl rassistisch motivierter Gewalttäter gestiegen ist, hat der Verfassungsschutz bereits gemeldet. Diejenigen, die die Opfer beraten und betreuen, beobachten dabei eine zunehmende Enthemmung der Täter.
Von Nina Magoley
Dass Menschen aus rassistischen oder antisemitischen Motiven heraus angegriffen werden, ist auch in NRW eine zunehmende Realität. Rechte Gewalt sei auch im vergangenen Jahr auf "sehr hohem Niveau" zu beobachten gewesen, melden die Fachberatungsstellen für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in NRW am Dienstag in einer gemeinsamen Jahresbilanz.
Insgesamt erfassten die Opferberatung Rheinland (OBR) und die Betroffenenberatung BackUp 355 Fälle rechter oder rassistischer Gewalt mit mindestens 452 direkt betroffenen Personen. Zusätzlich zu diesen Zahlen müsse man von einer "sehr hohen" Dunkelziffer nicht erfasster Fälle ausgehen.
"Fortschreitende Enthemmung"
Deutlich zugenommen hat dem Bericht zufolge die Zahl der gefährlichen Körperverletzungsdelikte. Ein Mensch wurde sogar getötet. Im Jahr 2023 war mit insgesamt 88 Fällen "ein trauriger Höchstwert erreicht", so Fabian Reeker von der Opferberatung Rheinland. Das sei knapp ein Viertel der Gesamttaten in NRW. Im Vergleich zum Vorjahr sei eine fortschreitende Enthemmung der Gewalt zu beobachten.
Zahlen stammen aus mehreren Quellen
Nach Angaben der beiden Beratungsstellen sind die Zahlen dieses "Monitorings" aus verschiedenen Quellen zusammengetragen: Zum einen fließen die konkreten Beratungen Betroffener mit ein. Dazu kämen polizeiliche Meldungen und Berichte aus den sozialen Medien oder von anderen Kooperationspartnern, sagt Lisa Schulte von der Dortmunder Opferberatungsstelle BackUp, die von Bund, Land und der Stadt Dortmund gefördert wird.
Häufigstes Tatmotiv: Rassismus
Zunahme gefährlicher Körperverletzung
Rund zwei Drittel der von den Beratungsstellen erfassten Angriffe, insgesamt 214, seien rassistisch motiviert gewesen. Im Jahr zuvor waren es 209 Fälle. Betroffen waren demnach unter anderem Geflüchtete, Migranten, Muslime, schwarze Menschen oder Sinti und Roma. Die registrierten Taten umfassten einfache (77) und gefährliche (54) Körperverletzungsdelikte, Brandstiftungen (5), Bedrohungs- und Nötigungsdelikte (73), sowie massive Sachbeschädigungen (4).
Zunahme antisemitischer Gewalttaten
Antisemitischer Gewalttaten nähmen bereits seit 2019 deutlich zu, stellen die Beratungsstellen fest. 2023 habe diese Kategorie aber eine "drastische Zuspitzung" erlebt. Die Angriffe umfassten massive Sachbeschädigung (1), Bedrohungen und Nötigungen (25) sowie einfache (6) und gefährliche Körperverletzungen (5). Opfer waren Einzelpersonen, Paare und Gruppen, Erwachsene, Jugendliche und auch Kinder.
Gewalt gegen Obdach- und Wohnungslose
Obdachlose als Ziel von Aggression
Dritte Kategorie der registrierten Taten ist die Gewalt gegen Obdachlose. Hier wurde ein Raubfall registriert, zwei einfache Körperverletzungsdelikte und acht gefährlichen Körperverletzungen. In Horn-Bad Meinberg wurde ein 47-jähriger Mann von drei Jugendlichen angegriffen und mit mehreren Messerstichen getötet. Die Täter filmten ihren Angriff und verbreiteten das Video über soziale Medien.
Hinter diesen sogenannten "sozialdarwinistischen" Angriffe stehe "eine Ideologie der Ungleichwertigkeit, die Menschen nach ihrem zugeschriebenen sozialen Status und vermeintlicher Nützlichkeit bewertet", heißt es in dem Bericht.
Die Betroffenen lebten in zunehmender Anspannung und Angst. Um sich zu schützen, versuchten einige, sich möglichst unauffällig im öffentlichen Raum zu bewegen oder ließen auch nachts ihre Schuhe an, um möglichst schnell weglaufen zu können. Andere betäubten ihre Angst mit Alkohol.
Wer sind die Täter?
Ein Großteil der Täter bei rassistischen Vorfällen habe kein gefestigtes ideologisches Weltbild oder sei in einer einschlägigen Neonazi-Gruppe organisiert, stellt Fabian Reeker von der Opferberatung Rheinland fest. Rassistische Ideologien seien kein gesellschaftliches Randphänomen, sondern tief in der Gesellschaft verankert und reichten bis weit in die gesellschaftliche Mitte.
Konflikte, die in rassistischen Gewaltakten gipfeln, passierten zum Beispiel häufig auch in nachbarschaftlichen Zusammenhängen. Betroffene berichteten von monatelangen Beleidigungen und Drohungen, irgendwann komme es zu Sachbeschädigungen - oder eben zu körperlichen Angriffen. Ebenso häufig aber würden sich Täter und Opfer gar nicht kennen, geschehe die Tat im öffentlichen Raum.
Auch für Angriffe gegen Obdachlose - als Herabwürdigungen von Gruppen, die von Armut, Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit betroffen sind - gebe es teils aus der Mitte der Gesellschaft Zustimmung, so die Erfahrung der Opferberatungsstellen.
Was sind die Motive?
"Ziel der Täter ist, nicht nur die einzelne Person zu schädigen, sondern vielmehr die ganze Gruppe, der diese Person zuzuschreiben ist", sagt Reeker. Es seien sogenannte "Botschaftstaten", die Angsträume schaffen und eine ganze Community angreifen sollen.
Wenn Journalisten oder politische Aktivisten angegriffen werden stünden allerdings oft Personen aus organisiert rechten Strukturen dahinter, ergänzt Lisa Schulte von BackUp. Deren Ziel sei es, das Engagement der Angegriffenen langfristig einzuschränken.
Vorfälle wie die viel beschriebene Partyszene auf Sylt, aber auch das Ergebnis der Europawahl zeigten, dass es in der gesamten Gesellschaft eine hohe Tendenz zu rassistischen und rechtsextremistischen Haltungen gebe. "Das alles schafft ein gesellschaftliches Klima, in dem die Täter sich legitimiert fühlen."
Was ist zu tun?
Tatsächlich könne es helfen, wenn die Opfer solcher Gewalttaten mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt würden, "denn sie sind Experten", sagt Reeker. Das müsse zum einen durch die Politik geschehen, die ihre Solidarität deutlicher bekunden und die Tatmotive deutlicher benennen solle.
Aber auch die Medien seien hier in der Pflicht. "Es muss weniger über als vielmehr mit den Betroffenen gesprochen werden", fordert Reeker. Nötig sei "eine breite gesellschaftspolitische Solidarität mit allen Betroffenen rechter Gewalt, die deren Perspektiven und politischen Forderungen in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellt."
Einrichtungen, die Betroffene unterstützen, bräuchten deutlich mehr finanzielle Förderung und Betroffene sollten ebenfalls finanziell besser unterstützt werden, wenn es zu Sachbeschädigungen oder auch nötigen medizinischen Therapien komme.
Und schließlich, so Reeker, käme auch prominent platzierten Gedenktafeln und eine "lokale Erinnerungskultur" in Zusammenarbeit mit den Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu. Auch sie könnten den Menschen deutlicher ins Bewusstsein rufen, was um sie herum geschehe, und wogegen es gelte, Haltung einzunehmen. Doch der Weg bis zur Aufstellung einer solchen Gedenktafel, die an eine Gewalttat erinnert, sei oft lang und mühsam.
Auch Verfassungschutz sieht Anstieg rechtsextremer Gewalt
Der jüngste Bericht des Verfassungschutzes NRW zählte im vergangenen Jahr 3.549 Straftaten im Bereich Rechtsextremismus, darunter 116 Gewaltdelikte und 547 antisemitische Straftaten - eine Steigerung um 65 Prozent zum Vorjahr. Besonders nach dem Terroranschlag der Hamas gegen Israel und dem folgenden Gazakrieg seien die Zahlen hochgeschnellt, heißt es in dem Bericht.
Laut der kürzlich veröffentlichten Polizeilichen Kriminalstatistik 2023 (PKS) für NRW ist die Zahl der Gewalttaten im vergangenen Jahr insgesamt um sieben Prozent angestiegen. 40,7 Prozent der ermittelten Tatverdächtigen im Bereich Gewaltkriminalität hatten demnach keinen deutschen Pass.
Unsere Quellen:
- Monitoringbericht der Opferberatungstellen
- Interview Fabian Reeker, Opferberatung Rheinland
- Interview Lisa Schulte, Opferberatungsstelle BackUp
- Verfassungsschutzbericht NRW 2023
- Polizeilichen Kriminalstatistik 2023 NRW