NRW: Heimkinder als Versuchsobjekt

Westpol 25.02.2024 06:15 Min. UT Verfügbar bis 26.02.2025 WDR Von Arne Hell, Niklas Schenk

Land NRW hat Heimkinder für Impftests missbraucht

Stand: 25.02.2024, 12:00 Uhr

Die NRW-Landesregierung hat in den 60er Jahren erlaubt, dass an Heimkindern Pockenimpfstoff getestet wurde. Das belegen historische Dokumente, die der WDR einsehen konnte.

Von Arne Hell und Niklas Schenk

Die Pocken waren in Europa einmal eine gefürchtete Krankheit. Wer an diesem Virus erkrankte, hatte ein hohes Risiko zu sterben. Wer überlebte, war oft mit wulstigen Narben übersät. Noch bis 1976 gab es in Deutschland eine Impfpflicht gegen Pocken.

Pockenschutzimpfung in Hannover 1967

Bis 1976 galt in Deutschland eine Impfpflicht gegen Pocken

In Nordrhein-Westfalen kümmerte sich damals eine eigene Behörde um den Schutz der Bevölkerung, die Landesimpfanstalt in Düsseldorf. Sie stellte Pockenimpfstoff selber her – und testete ihn dann an Kindern, die in Heimen lebten. Also an Kindern, bei denen man dies ohne Einwilligung der Eltern tun konnte.

"Abhängigkeit von Heimkindern ausgenutzt"

Heiner Fangerau im Interview

Prof. Heiner Fangerau, Medizinhistoriker Universität Düsseldorf

"Was wir in Akten gefunden haben, sind sogenannte Probeimpfungen, die an Kindern in Heimen durchgeführt worden sind", sagt Prof. Heiner Fangerau, Medizinhistoriker an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, "das ist schon etwas, das aus heutiger Sicht maximal irritierend ist." Er bewertet diese Tests als Medikamentenmissbrauch: "Hier wurde die Abhängigkeit in besonderer Weise ausgenutzt, um etwas zu versuchen, was man anderen Kindern nicht zumuten wollte."

Bericht der Landesimpfanstalt NRW 1963

Bericht der Landesimpfanstalt NRW 1963

Fangerau und sein Team erstellen im Moment im Auftrag des NRW-Gesundheitsministeriums eine groß angelegte Studie, die das gesamte Ausmaß des Medikamentenmissbrauchs an Heimkindern in der Vergangenheit untersucht. Die Probeimpfungen sind im unveröffentlichten Zwischenbericht zur Studie beschrieben, den das WDR-Magazin Westpol einsehen konnte. Belegt sind sie unter anderem durch Berichte der Landesimpfanstalt aus den Jahren 1962 und 1963.

Impfstoff stammte aus lebenden Kühen

Gewinnung von Pockenimpfstoff auf der Kuhhaut

Gewinnung von Pockenimpfstoff auf der Kuhhaut, Düsseldorf

Bei den Tests ging es nicht darum, einen neuen Impfstoff zu entwickeln, sondern zu überprüfen, ob der hergestellte Pockenimpfstoff gut verträglich und sicher war. Das hatte auch mit der Herstellungsmethode zu tun: Die Antikörper wurden aus lebenden Tieren gewonnen, vor allem aus Rindern. Sie wurden dafür am Bauch gegen Pocken geimpft. Danach entstanden auf der Kuhhaut Pusteln, die ein Sekret enthielten.

"Das war der Rohimpfstoff, und der konnte ja verunreinigt sein mit Bakterien", sagt die Pharmaziehistorikerin Sylvia Wagner, "und das musste man überprüfen". Das Risiko, etwa an einer Hirnhautentzündung zu erkranken, wurde bei den Tests allerdings einseitig Heimkindern aufgebürdet. "Hier waren die Kinder zur Verfügung. Man konnte sie benutzen, weil man eben eine Einwilligung der Eltern oder eine Aufklärung umgehen konnte."

"Land NRW trägt die Verantwortung für Probeimpfungen"

Sylvia Wagner, Pharmaziehistorikerin

Sylvia Wagner, Pharmaziehistorikerin

Sylvia Wagner arbeitet mit an der Studie und durchforstet seit Monaten Archive nach Belegen für Medikamentenmissbrauch. Auf die historischen Berichte der Landesimpfanstalt stieß sie im Landesarchiv in Duisburg. Aus ihrer Sicht ist klar, dass die damalige Landesregierung die Impftests erlaubt hat: "Dadurch trägt auch das Land NRW die Verantwortung für diese Probeimpfungen. Das hat für mich eine andere Qualität, als wenn irgendein Pharmaunternehmen ein Präparat testet, ohne dass die Behörden davon wissen."

Das heutige NRW-Gesundheitsministerium sieht sich durch die Ergebnisse bestätigt, die Studie in Auftrag gegeben zu haben. "Die ersten Befunde im Zwischenbericht zu den Pockenimpfversuchen deuten auf eine Praxis hin, die heute in keinem Fall mehr statthaft wäre", heißt es auf Westpol-Anfrage. Um den gesamten Komplex des Arzneimittelmissbrauchs an Heimkindern zu bewerten, möchte das Ministerium den Abschlussbericht zur Studie abwarten.

Sechs Wochen Kinderpsychiatrie - keine Erinnerung

Peter Wilde, Betroffener von Medikamentenmissbrauch

Peter Wilde, ehemaliges Heimkind

Eine andere Form von Medikamentenmissbrauch hat auch Peter Wilde erlebt. Der 67-Jährige lebte von Geburt an in Kinderheimen in Ostwestfalen: "Wir durften nie Kinder sein. Wir durften nicht spielen. Wer unartig war in der Schule oder auch in den Heimen, der wurde weggesperrt."

1969 kam Peter Wilde für sechs Wochen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamm, die heutige LWL-Universitätsklinik, weil er sich gegen gewalttätige Betreuer gewehrt hatte. Bis heute erinnert er sich allerdings an diese sechs Wochen nicht: "Da ist nichts vorhanden. Das ist ein schwarzes Loch."

Neuroleptikum für "störende" Kinder

Der mutmaßliche Grund dafür: Der damals 11-jährige Junge wurde in Hamm täglich sediert, mit dem Medikament Megaphen, einem Neuroleptikum. In seiner Patientenakte von damals ist festgehalten, dass er dreimal am Tag je zwei Tabletten schlucken musste, "so dass er nicht mehr störend durch seine Unruhe auffiel".

Medikamentenmissbrauch an Kindern

WDR 5 Neugier genügt - das Feature 26.02.2024 21:18 Min. Verfügbar bis 25.02.2025 WDR 5 Von Niklas Schenk


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Der Hersteller von Megaphen, der Pharmakonzern Bayer, empfahl das Medikament in den 50er Jahren für solche Anwendungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Auf konkrete Fragen dazu antwortet Bayer nicht, schreibt nur allgemein, man unterstütze die historische Aufarbeitung der Zusammenhänge bei einem Medikamenteneinsatz in Kinder- und Jugendheimen. Tatsächlich öffnete Bayer den Forscherinnen und Forschern für die Studie das firmeneigene Archiv.

Arzneimittelversuche in Deutschland erst seit 1978 geregelt

Die LWL-Klinik in Hamm schreibt auf Anfrage: "Wenn ein solcher Medikamentenmissbrauch erfolgt ist, nur um einen Patienten ruhig zu stellen, ist das durch nichts zu entschuldigen." Man bedaure dies sehr, auch wenn so etwas "offenbar der damaligen Rechtslage und medizinischen Praxis entsprochen" habe.

Klare Gesetze für Arzneimittelversuche wurden in Deutschland erst 1978 erlassen. Aber ein Medikamenteneinsatz ohne Zustimmung war auch damals schon als Körperverletzung strafbar.

Heimkinder im Kinderheim Schwelm

Heimkinder in einem Heim in Schwelm 1960

Diese Praxis war in NRW offenbar deutlich weiter verbreitet als bisher bekannt. "Wir finden in nahezu jeder Einrichtung, die sich mit Heimkindern befasst, irgendeine Form von missbräuchlichem Arzneimitteleinsatz, zumindest in jeder, die wir untersucht haben", beschreibt Prof. Heiner Fangerau, der Studienleiter, eine weitere Erkenntnis des Zwischenberichts.

Für elf weitere Einrichtungen hat sein Team inzwischen Hinweise gefunden, denen jetzt teilweise noch nachgegangen werden muss. Sie sollen im Abschlussbericht der Studie mit den Fällen zusammengefasst, die bisher schon bekannt waren. Anfang 2025 soll dieser Bericht veröffentlicht werden.

Über dieses Thema berichten wir auch im WDR-Fernsehen in WDR aktuell um 12.45 Uhr.

Unsere Quellen:

  • Zwischenbericht zur Studie „Missbräuchlicher Medikamenteneinsatz bei Kindern und Jugendlichen bis 1980“ im Auftrag des NRW-Gesundheitsministeriums
  • Interview mit Studienleiter Prof. Heiner Fangerau, Medizinhistoriker an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
  • Interview mit Pharmaziehistorikerin Sylvia Wagner
  • Interviews mit Betroffenen und Zeitzeugen
  • Patientenakten früherer Heimkinder

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