Jahrelang konnte NRW-Innenminister Herbert Reul bei der Vorstellung der jährlichen Kriminalstatistik eine sinkende Zahl an Straftaten verkünden und damit seine eigene Politik ins rechte Licht rücken. Doch am Dienstag trat ein sichtlich geknickter Innenminister vor die Presse. Und das lag nicht - oder nicht nur - am Karnevals-Kater nach den jecken Tagen. Reul musste einen ungewöhnlich deutlichen Anstieg der Kriminalität einräumen. "Das werden heute keine Zahlen sein, die mich zufrieden stellen", sagte der CDU-Politiker direkt zu Beginn der Pressekonferenz.
Deutlich mehr Straftaten
Konkret wurden 2022 insgesamt 1.366.601 Straftaten in NRW erfasst. Im Vergleich zu 2021 stieg die Zahl der Delikte damit um fast 14 Prozent. Damals galten allerdings noch zahlreiche Corona-Einschränkungen, die sich auch auf das Kriminalitätsgeschehen auswirkten: Viele Großveranstaltungen, bei denen es zu Diebstählen oder Körperverletzungen kommen kann, fanden nicht statt - und das viele Homeoffice machte es Einbrechern schwerer.
Doch auch beim Blick auf das Vor-Corona-Jahr 2019 zeigt sich nun eine deutliche Zunahme der Straftaten um zehn Prozent.
Reul nennt mögliche Gründe
Schaut man noch weiter zurück, wird schnell deutlich, dass auch in den Jahren vor 2017 die Kriminalität deutlich höher war als jetzt in 2022. Trotzdem ist der sprunghafte Anstieg innerhalb eines Jahres keine gute Entwicklung. Reul selbst sagte am Dienstag: "Schönfärberei hilft jetzt ebenso wenig, wie alles schwarz zu malen. Wir müssen uns fragen, wieso die Zahlen sind wie sie sind." Zum einen habe es einen "Pendeleffekt" gegeben. "Das, was in den Pandemiejahren nicht gemacht wurde, wurde 2022 nachgeholt. Dann aber exzessiver, wilder und noch mehr davon", so Reul.
Zum anderen habe sich das Anzeigeverhalten verändert. Es werde mehr angezeigt und auch Dinge, die früher nicht erfasst worden seien. Die Möglichkeit, im Internet eine Anzeige zu stellen, spiele da auch eine Rolle. Obendrein verwies der Minister auf den "Dauerkrisenmodus" der vergangenen Jahre, der sich auf die Menschen und somit auch auf die Kriminalstatistik auswirke. "Aber auch wenn sich viel erklären lässt, bleiben die Zahlen problematisch", sagte Reul.
Mehr Diebstähle, mehr Körperverletzungen
Beim detaillierten Blick in die Kriminalstatistik wird schnell deutlich, dass es einige Bereiche gibt, die Grund zur Sorge geben:
- Bei den Diebstählen gab es innerhalb eines Jahres ein Plus von 23 Prozent auf rund 480.000 erfasste Fälle. Reul spricht vom "Hauptproblem", da die Diebstahlsdelikte etwa 35 Prozent aller festgestellten Straftaten ausmachten.
- Im Bereich Raub zählte die Polizei rund 11.000 Fälle - ein Anstieg um 37 Prozent.
- Im Bereich Mord und Totschlag gab es 23 Prozent mehr Fälle - insgesamt 380. Immerhin: Meistens blieb es beim Versuch.
- Die erfassten Körperverletzungen sind um 24 Prozent auf 142.000 Fälle gestiegen.
Besorgt zeigte sich der Innenminister auch wegen der Zahlen im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität. Bei insgesamt knapp 500.000 Tatverdächtigen sei jeder Fünfte unter 21 Jahre alt gewesen. Insbesondere Kinder seien deutlich zu oft tatverdächtig. "Wenn Sie so wollen, sind die Zahlen der Beweis dafür, dass die Pandemie unsere Kinder verändert hat", behauptete Reul.
SPD fordert Konsequenzen
Angesichts der gestiegenen Kriminalität nahm die SPD bereits Reul ins Visier. "Die heute vorgestellten Zahlen sind kein Ruhmesblatt für den Innenminister", sagte die innenpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion, Christina Kampmann. Es handele sich um einen "unüberhörbaren Weckruf" für die Landesregierung. Ob die Entwicklung hauptsächlich durch Corona-Effekte erklärbar sei, müsse sich erst noch zeigen. "Entscheidend wird aber auch sein, welche Konsequenzen Innenminister Reul daraus zieht."
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) forderte sogar eine strategische Neuausrichtung der Polizei. Zweistellige Zuwachsraten bei den im öffentlichen Raum begangenen Straftaten seien mehr als ein Alarmsignal. Der personelle Wiederaufbau müsse beschleunigt und die Probleme bei der Nachwuchsgewinnung überwunden werden. "Wir brauchen nicht nur eine Stärkung der Kommissariate, sondern auch der Wachen und eine größere Präsenz auf der Straße", forderte GdP-Landeschef Michael Mertens.
Weniger Messerattacken
Doch so ganz ohne positive Nachrichten musste Reul an diesem Tag nicht bleiben. Eine erfreuliche Entwicklung konnte er im Bereich "Tatmittel Messer" verkünden. Dort seien die Zahlen weiter rückläufig. War 2019 in 5.780 Fällen ein Messer mit im Spiel, waren es 2022 noch 4.191 - ein Minus von 27 Prozent. Ein Grund, so Reul, seien die neueingeführten Waffenverbotszonen in manchen Städten.