Welche Folgen hätte ein Energie-Embargo für NRW?
Stand: 05.04.2022, 17:09 Uhr
Stahl, Chemie, Papier, Glas, Zement - sie alle werden mit viel Energie in NRW produziert. Ein Öl- und Gasembargo gegen Russland wäre hier direkt zu spüren. Das weiß auch die Politik.
Von Sabine Tenta
Die Bilder mutmaßlicher Kriegsverbrechen durch die russische Armee in Butscha, nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew, hat eine ganz neue Dynamik in die Forderung nach einem Energie-Embargo gegen Russland gebracht.
Die bisherige Linie der Bundesregierung ist, sich so schnell wie möglich unabhängig von fossiler Energie aus Russland zu machen und den Import sukzessive zu reduzieren. Damit bleibt in der akuten Situation das Dilemma zwischen Moral und wirtschaftlichen Zwängen bestehen, dass der Kauf russischer Energie zugleich den Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine mitfinanziert.
EU-Kommission will Importverbot für russische Kohle
Auch am Dienstag deutet aber noch nichts darauf hin, dass man ein Gas-Embargo in Betracht zieht. Stattdessen wird wohl hinter einem Import-Stopp für russische Kohle das nächste Häkchen auf der Sanktionsliste gesetzt.
Genau das hat die EU-Kommission bei ihren neuesten Vorschlägen für Sanktionen gegen Russland empfohlen. Die EU müsse nach den abscheulichen Verbrechen in Butscha den Druck auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin erhöhen, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Sofortiger Lieferstopp würde zu Kohleknappheit führen
Kraftwerksbetreiber und industrielle Nutzer sind bereits dabei, den Verbrauch russischer Kohle zu reduzieren, aber ein sofortiger Import-Stopp bliebe wohl kaum folgenlos. Fast die Hälfte der 31,82 Millionen Tonnen, die die Bundesrepublik 2020 importierte, kam nach Angaben des Vereins der Kohlenimporteure aus Russland.
In einem der dpa vorliegenden Bericht des Wirtschaftsministeriums an den Wirtschaftsausschuss des Bundestags hieß es, die Umstellung der Lieferketten sei noch nicht vollzogen, so dass es bei einem sofortigen Lieferstopp nach wenigen Wochen zu Kohleknappheit kommen könnte.
NRW-SPD: Embargo würde Arbeitsplätze gefährden
Ein Kohle-Boykott könnte das Zugeständnis sein, zu dem die deutsche Politik bereit ist. Kurzfristig wird sie kaum auf alle russischen Energielieferungen verzichten wollen.
Der SPD-Spitzenkandidat für die NRW-Landtagswahl, Thomas Kutschaty, betont gegenüber dem WDR, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) habe den richtigen Weg eingeschlagen. "Ein Energie-Embargo ist eine moralisch höchst richtige Forderung. Zur Wahrheit gehört zugleich, dass ein solches Embargo erhebliche Auswirkungen auf die nordrhein-westfälische Industrie und Wirtschaft hätte." Lieferketten und Wertschöpfung würden zusammenbrechen und Arbeitsplätze gefährdet. Dadurch sieht Kutschaty die Akzeptanz eines Embargos gefährdet: "Sanktionen sind nur gut, wenn sie durchgehalten werden können."
NRW-Grüne: Habecks Weg ist richtig
Auch von den NRW-Grünen kommt volle Rückendeckung für den Kurs der Bundesregierung. Ihre Spitzenkandidatin und Landesvorsitzende Mona Neubaur sagte dem WDR, "der ambitionierte, schrittweise Lieferstopp, wie ihn Bundeswirtschaftsminister Habeck anlegt", sei aktuell der richtige Weg. "Die Importe von Gas, Öl und Kohle konnten bereits signifikant verringert werden", dieses Tempo müsse nun erhöht werden. "In den täglichen Abwägungsprozessen ist die wichtigste Voraussetzung, dass unsere Maßnahmen langfristig durchgehalten werden können." Es müsse um einen dauerhaften Ausstieg aus fossilen Importen gehen.
Hofreiter (Grüne): Embargo schwierig, aber möglich
Es gibt innerhalb der grünen Partei aber auch deutlich weiterreichende Vorstellungen. So forderte Anton Hofreiter, Vorsitzender des Europa-Ausschusses im Bundestag, am Montag im Deutschlandfunk, "dass wir uns, auch wenn es noch so schwierig ist, dazu durchringen, ein Energie-Embargo gegen Russland zu verhängen." Dies in den nächsten Tagen und Wochen umzusetzen sei "extrem schwierig", aber nicht unmöglich. Nötig seien dafür Energieeinsparungen, Produktionskürzungen sowie ein Rettungspaket für die Industrie und Kurzarbeitergeld.
Am Ende gehe es aber nicht, "das Kriegsverbrecher-Regime weiter zu finanzieren", sagte Hofreiter am Dienstag dem WDR. "Wir verlieren massiv Ansehen in Europa und in der ganzen Welt. Das kostet uns geopolitisch sehr viel. Am Ende kostet uns das auch ökonomisch sehr viel."
Ministerpräsident Wüst: Nichts ausschließen
Bislang hat NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) immer wieder betont, dass Sanktionen nicht an Deutschland scheitern dürften. Man dürfe nichts ausschließen. Aber zugleich betonte der CDU-Politiker auch, wie wichtig die Versorgungssicherheit für die NRW-Wirtschaft und die Akzeptanz von Sanktionen ist. In diesem Punkt also sind sich der Amtsinhaber und sein Herausforderer einig.
Massive Auswirkungen auf die NRW-Wirtschaft
Wie hart würde am Ende ein Energie-Embargo NRW treffen? Zu den besonders energieintensiven Branchen gehören die Stahl-, die Papier-, die Zement- und die Chemieindustrie. Für all diese Branchen ist NRW ein wichtiger Standort. Erst letzten Freitag besuchte Bundeskanzler Scholz die Friedrich-Wilhelms-Hütte FWH Stahlguss in Mülheim an der Ruhr.
- Stahlindustrie: der größte Stahlstandort Europas ist in Duisburg. Laut NRW-Wirtschaftsministerium werden in Nordrhein-Westfalen 16 Millionen Tonnen Rohstahl produziert, das seien 38 Prozent der Gesamtproduktion in Deutschland. 45.500 Beschäftigte seien hier tätig, 54 Prozent der Stahlbelegschaften in Deutschland.
- Zementindustrie: Laut Verband der Zementindustrie gibt es in NRW 16 Zementwerke mit Standorten in Beckum, Dortmund, Duisburg, Ennigerloh, Erwitte, Geseke, Lengerich, Neuss, Paderborn und Sötenich.
- Papierindustrie: Nordrhein-Westfalen ist einer der wichtigsten Standorte in Deutschland, teilt das NRW-Wirtschaftsministerium mit: Rund 7.000 Mitarbeitende erwirtschaften in 30 Betrieben einen Umsatz von 2,1 Milliarden Euro.
- Chemieindustrie: 93.000 Beschäftigte machen mit 42,3 Milliarden Euro Umsatz NRW zum bundesweit bedeutendsten Standort. Rund ein Drittel der deutschlandweiten Umsätze werden laut NRW-Wirtschaftsministerium hier erwirtschaftet.
Fachverband: Arbeitslosigkeit ist zu befürchten
Laut "Verband der industriellen Energie- und Kraftwirtschaft" (VIK) stellen sich die Unternehmen gerade die Frage, ob sie kurzfristig auf Gas verzichten könnten und welche Auswirkungen dies auf die "nachgelagerten Wertschöpfungsketten" hätte. Theodor Wolf vom VIK nannte dem WDR folgendes Beispiel: "Die Chemieindustrie produziert zum Beispiel Vorprodukte für die Düngemittelindustrie, an der die Lebensmittelversorgung der kommenden Jahre hängt."
Atomkraftwerke könnten zwar den Gasbedarf für die Stromerzeugung senken, aber ihr Nutzen "wäre für die Industrie eher gering, da die Industrie Wärme und Gas als Rohstoff benötigt", so Wolf.
Der Verband lehnt ein Embargo wegen der gravierenden Folgen für die Industrie ab. Es würde, so führt Theodor Wolf aus, das Gas verknappen und verteuern. Es sei fraglich, ob und wenn ja in welchem Umfang - mit Blick auf die Weltmarktkonkurrenz - die Hersteller diese höheren Preise weitergeben könnten. Darum rechnet der VIK in diesem Fall eher mit einer "Produktions- und Nachfrage-Reduktion". Die Folgen könnten Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit sein.
Zum Beispiel Thyssenkrupp
Auch Deutschlands größter Stahlhersteller Thyssenkrupp hat seinen Sitz in NRW, in Essen. Egal ob zur Sanierung maroder Brücken oder für Windräder - Stahl ist ein wichtiger Rohstoff. Die Vorstandsvorsitzende des Konzerns, Martina Merz, hält einen Mindestbezug von Gas aus Russland für die nächsten Monate für unverzichtbar. Dem "Spiegel" sagte sie, ein harter Schnitt hätte einen unmittelbaren Produktionsstopp in weiten Teilen der Industrie zur Folge: "Die Kurzarbeit würde explodieren, die Steuereinnahmen würden drastisch einbrechen. Die Wirtschaft könnte regelrecht implodieren."
Sie sagte aber auch, für den Fall, dass ganze Industrieanlagen abgeschaltet werden müssen: "Wir werden auch damit umzugehen wissen. Ich habe in den vergangenen Wochen das Vertrauen gewonnen, dass die Bundesregierung den festen Willen hat, das zu orchestrieren. Und dafür die notwendige Kompetenz aufbaut."
Ein Energie-Embargo würde die NRW-Wirtschaft also sehr hart treffen - aber nicht völlig unvorbereitet.