27.08.2024, Nordrhein-Westfalen, Solingen: Ein Absperrband mit der Aufschrift Polizeiabsperrung liegt auf dem Fronhof auf dem Boden.

Solingen-Anschlag: Kommunikation noch chaotischer als bisher bekannt

Stand: 28.04.2025, 20:39 Uhr

Nach dem Messeranschlag in Solingen war die Kommunikation zwischen Innen- und Flüchtlingsministerium wenig geordnet. Das belegt ein neues Chatprotokoll.

Von Christoph Ullrich Christoph Ullrich

Als am Abend des 23. August 2024 ein junger Syrer auf dem Solinger Stadtfest sein Messer zückt und wahllos auf Umstehende einsticht, hatte das schlimme Folgen. Drei Menschen starben, viele weitere wurden schwer verletzt. Später kam heraus, dass es sich bei dem Attentäter um einen Menschen handelte, der eigentlich hätte längst nach Bulgarien überstellt werden müssen. Dort hatte er sich zuerst innerhalb der EU bewegt, weswegen dort sein Asylantrag zu behandeln sein müsste. Die Überstellung scheiterte jedoch im Vorfeld auch wegen großer Probleme mit dem Umgang des Asylrechts innerhalb der EU.

Vor allem die ersten Stunden nach der Tat gestalten sich chaotisch. Ermittler versuchen den Täter zu fassen, am folgenden Abend gelingt es ihnen. In der Presse werden bereits Details zu ihm bekannt gegeben, da weiß man zum Beispiel im Flüchtlingsministerium noch nichts Konkretes.

"Der Presse kann ich entnehmen..."

Das zeigen dem WDR vorliegende Chat-Nachrichten des Staatssekretärs von Ministerin Josefine Paul (Grüne). Am Nachmittag bittet Lorenz Bahr seine Amtskollegin aus dem Innenministerium, Daniela Lesmeister, um Rücksprache. Man habe keine Meldung über ein wichtiges Ereignis (eine sogenannte WE-Meldung) aus dem Innenministerium erhalten, wonach der Täter "in einer Flüchtlingsunterkunft wohnhaft gewesen und dort verhaftet worden sei." Dies habe er, schreibt Bahr, aus dem "Spiegel" erfahren.

Daniela Lesmeister steht vor Mikrofonen

Daniela Lesmeister

Lesmeister verspricht, sich zu melden; am späten Nachmittag telefonieren beide. In dem Telefonat soll es aber nur darum gegangen sein, dass ein zunächst angenommener Komplize in der Unterkunft verhört worden sei - so stellt es zumindest Innenminister Herbert Reul (CDU) später dar. Dass es in dem Telefonat nicht um Details zu den Ermittlungen gegangen sein kann, belegen die Chats.

Am späten Abend, um 22:48 Uhr, schreibt Bahr erneut an Lesmeister, dass man keine neuen Infos seitens ihres Ministeriums erhalten habe. "Der Presse kann ich entnehmen, dass ihr mit Unterstützung durch das SEK in eine Flüchtlingsunterkunft gegangen seid", schreibt der Staatssekretär. Er bittet erneut darum, auf dem Laufenden gehalten zu werden. "Denn es ist doch klar, dass wir zu den Tatverdächtigen, deren Geflüchtetengeschichte, Aufenthaltsstatus etc befragt werden."

"Geht mir auch so..."

Lesmeister antwortet auf diese Nachricht zunächst nicht, schickt in der Nacht dann aber einen Link zu einer Eilmeldung von "Zeit Online", wonach der Täter gefasst ist. Am Mittag danach schreibt Bahr deutlich: "Liebe Daniela, ich bin erschreckt über welche Informationen die Presse verfügt." Zwischen den Zeilen wird auch deutlich, dass sich der Flüchtlingsstaatssekretär einen anderen Austausch gewünscht hätte: "Und natürlich ist es so, dass nicht nur bei euch, sondern eben erwartungsgemäß auch bei uns reihenweise Presseanfragen eingehen. Grüße, Lorenz".

Lesmeister antwortet knapp: "Ja, Lorenz, geht mir auch so! Das Problem haben wir immer. LG". An keiner Stelle geht sie auf den Wunsch des Amtskollegen ein, besser informiert zu werden. Der Chatverlauf stammt aus den Akten des zuständigen Untersuchungsausschusses im Landtag - diese wurden von den Ministerien überstellt, befanden sich also demnach auf den entsprechenden Mobilgeräten.

In einer Aktennotiz schreibt das Innenministerium an den Ausschuss jedoch, dass von Lesmeister die Nachricht um 22:48 "zu keinem Zeitpunkt wahrgenommen wurde". Sie befände sich auch nicht in ihrem Nachrichtenverlauf, heißt es in der Notiz weiter. Warum die Nachricht dem Ausschuss überstellt wurde, obwohl sie nicht im Nachrichtenverlauf auftaucht, erscheint jedoch rätselhaft. Zumal Lesmeister in der Nacht trotzdem noch reagiert.

Lesmeister wiederholt im Fokus

Lesmeister selber will sich zu den Chats nicht äußern, "aus Respekt vor der wichtigen Arbeit des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses", wie sie auf WDR-Anfrage schreibt. Die beiden Ministerien selber schreiben zudem, dass man sich um einen zügigen Austausch bemüht habe. "Die Zusammenarbeit im Zuge der Ermittlungen auf Arbeitsebene ist aus Sicht der Innenministeriums nicht zu bemängeln", sagt ein Ministeriumssprecher. Allerdings stehen Lesmeister und Bahr für die politische Ebene und nicht der ermittelnden Behörden.

Es ist nicht der erste Vorgang, bei dem die Kommunikation nach dem Anschlag in den medialen Fokus gerät. Schon vor Monaten war bekannt geworden, dass im Flüchtlingsministerium am Samstagabend eine Mail an alle entscheidenden Stellen weitergeleitet wurde, in denen es erste Informationen zum Täter gab. Allerdings wird auch in dieser Mail der Informationsaustausch als "zu kritisierende Zurückhaltung" beschrieben.

Für die Innen-Staatssekretärin Lesmeister ist es ein erneutes Problem, bei dem sie mit im Mittelpunkt stehen könnte. Bereits bei der missglückten Stellenbesetzung des Präsidentinnen-Amtes am Oberverwaltungsgericht hatte sie einen Form-Fehler begangen. Deswegen musste das Verfahren noch einmal neu aufgesetzt werden. Auch in diesem Fall beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss des Landtags mit dem Thema.

Unsere Quellen:

  • Chatverlauf Lesmeister Bahr
  • Protokolle Untersuchungsausschuss
  • Stellungnahme der zuständigen Ministerien
  • Eigenen Recherche

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