Solingen-Sondersitzung: NRW nutzte nicht alle Mittel bei Abschiebung
Stand: 29.08.2024, 06:00 Uhr
Zwei Ausschüsse des NRW-Landtags kommen am Donnerstag zu einer Sondersitzung zum Solinger Anschlag zusammen. WDR-Recherchen zeigen: NRW nutzte 2023 bei der gescheiterten Überstellung des Tatverdächtigen nach Bulgarien nicht alle Mittel.
Von Cedrik Pelka, Henrik Hübschen und Martin Teigeler
Der tödliche Messerangriff eines mutmaßlichen Islamisten in Solingen ist am Donnerstag Thema im NRW-Landtag. Innen- und Integrationsausschuss kommen auf Antrag der Opposition zu einer gemeinsamen Sondersitzung zusammen. Die Beratungen in Düsseldorf beginnen um 12 Uhr.
Innenminister Herbert Reul (CDU) und Fluchtministerin Josefine Paul (Grüne) sollen dabei den Abgeordneten Rede und Antwort stehen.
Fristverlängerung verpasst
Kurz vor der Sitzung wird bekannt: Die nordrhein-westfälischen Ausländerbehörden haben vor dem Versuch, den späteren mutmaßlichen Attentäter von Solingen aus der Landesunterkunft in Paderborn an Bulgarien zu überstellen, eine folgenschwere Einschätzung getroffen und damit die Möglichkeit verpasst, die Überstellungsfrist von sechs auf 18 Monate zu verlängern.
Sie entschieden sich, dem Syrer das Datum der Überstellung nicht anzukündigen und auch keine sogenannte Nachtzeitverfügung auszusprechen. Diese hätte dem Mann auferlegt, dass er sich in der Nacht der Überstellung in seinem Zimmer aufhalten muss. Als sie den Mann am 05. Juni 2023 um 02:30 Uhr abholen wollten, trafen sie ihn nicht an.
Dabei können die Ausländerbehörden eine solche Nachtzeitverfügung grundsätzlich anwenden, wenn es die Erfolgsaussichten einer Überstellung erhöht. Außerdem erhöht der Erlass einer solchen Verfügung die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer gescheiterten Überstellung die Überstellungsfrist von sechs auf 18 Monate verlängert wird.
Wann eine Person als flüchtig gilt
Gemäß behördeninterner Leitlinien des in diesem Fall zuständigen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) genügt eine einfache einmalige Abwesenheit nämlich nicht, um eine Person als flüchtig anzusehen. Das ändert sich, wenn die Überstellung vorher angekündigt wurde. In den Leitlinien des BAMF, die dem WDR vorliegen, heißt es dazu wörtlich: "Eine Person gilt als flüchtig, wenn der Überstellungstermin vorab angekündigt wurde bzw. zuvor eine Nachtzeitverfügung erlassen wurde und die Person am Termin nicht angetroffen wurde. Die Überstellungsfrist beträgt dann 18 Monate."
Das NRW-Flüchtlingsministerium begründet den Verzicht auf die Maßnahme auf WDR-Anfrage damit, dass eine vorherige Ankündigung des Abschiebetermins durch eine Verfügung das Risiko eines Untertauchens erhöhe. Prämisse habe, welche Maßnahme die höchste Erfolgsaussicht auf eine schnellstmögliche Überstellung habe. Weder dem Ministerium noch der zuständigen Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld hätten zudem zum Zeitpunkt der Entscheidung sicherheitsrelevante Erkenntnisse zu der Person vorgelegen.
Schon kurz darauf wieder in Unterkunft
Ob der Syrer in der Nacht des Zugriffs zufällig nicht in seinem Zimmer war oder ob er von der bevorstehenden Überstellung wusste, ist Gegenstand der Ermittlungen. Klar ist nur: Schon am nächsten Mittag war er wieder in der Unterkunft. Die Ausländerbehörde erfuhr dies von der Unterkunftsleitung allerdings nicht. Weil die Ausländerbehörde vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist keinen weiteren Flug nach Bulgarien buchen konnte, der den komplexen Vorgaben genügt, verzichtete diese ganz auf einen weiteren Überstellungsversuch.
Nach Ablauf der Frist war dann nicht mehr Bulgarien, sondern Deutschland für das Asylverfahren zuständig. Der spätere mutmaßliche Täter wurde Solingen zugewiesen und hielt sich als Bürgerkriegsflüchtling mit subsidiärem Schutz legal in Deutschland auf.
Opposition fordert lückenlose Aufklärung
Es werden viele kritische Fragen erwartet - insbesondere zu den Umständen der gescheiterten Abschiebung des Tatverdächtigen. Die oppositionelle SPD fordert von der schwarz-grünen Landesregierung Aufklärung über jedes Detail von der Vorgeschichte des Mannes bis zum Tatgeschehen in Solingen.
Der Tatverdächtige soll am vergangenen Freitag in Solingen drei Menschen mit einem Messer getötet und acht weitere teils schwer verletzt haben.
Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen Mordes und wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Der Tatverdächtige sitzt seit Sonntagabend in Untersuchungshaft.
Die Terrorgruppe veröffentlichte am Sonntag ein Video des Tatverdächtigen, das er laut Tagesschau wohl kurz vor der Tat aufgenommen hatte. Er muss demnach Kontakt zu Vertretern des IS-Netzwerkes gehabt haben - oder wusste zumindest wohin er ein solches Video schicken musste.
Am Freitag findet eine weitere Sondersitzung im Düsseldorfer Landtag statt. Dann will Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) die Abgeordneten in einer Plenarsitzung über den Anschlag von Solingen unterrichten. Das Parlament wird in einer Schweigeminute der Opfer gedenken.
Über dieses Thema berichten wir im WDR am 29.08.2024 auch im Fernsehen: WDR aktuell, 12.45 Uhr.