Innenminister Herbert Reul (CDU) klang düster, als er am Donnerstag die Pressekonferenz zum Verfassungschutzbericht 2023 eröffnete. "Der Dauerkrisenmodus endet nicht", sagte er, die Bedrohung durch politisch motivierte Kriminalität in NRW sei "so hoch wie nie". Das vergangene Jahr sei "kein gutes Jahr für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung" gewesen, so Reul.
Zwar ist die absolute Zahl der Straftaten 2023 im Vergleich zum Vorjahr um gut 15 Prozent gesunken - doch das liege vor allem daran, dass Verstöße gegen das Versammlungsverbot in der Coronazeit weggefallen sind. Fakt sei: "Die Qualität der Straftaten ist eine neue."
Knapp die Hälfte aller Taten rechtsextremistisch
Von den insgesamt 7.596 gezählten Straftaten mit politischer Motivation gingen 3.549 auf das Konto rechtsextremistisch Gesinnter. 1.097 wurden dem linksextremistischen Spektrum zugeordnet, 829 dem "auslandsbezogenen Extremismus" und 305 dem Islamismus und Salafismus. Die letztgenannte Zahl hänge unmittelbar mit der Zuspitzung des Nahost-Konflikts zusammen, sagte Reul. Knapp 1.800 Fälle seien nicht eindeutig zuzuordnen gewesen.
Antisemitismus nimmt zu
Vor allem sei eine "Rückkehr" des Antisemitismus zu beobachten. Hier stieg die Zahl der Straftaten laut Verfassungsschutzbericht seit dem Vorjahr um 65 Prozent. Ganz besonders nahmen die Zahlen zu seit dem 7. Oktober 2023, dem gewalttätigen Überfall der Hamas auf Israel. In den meisten Fällen ging es dabei um Volksverhetzung.
Ganz neu: Mit den Juden als gemeinsamem Feindbild schließen sich Rechtsextremisten, Reichsbürger, sogenannte "Deligitimierer", die Regierung und staatliche Institutionen in Frage stellen, und Pro-Hamas-Aktivisten zu "terroristischen Gruppierungen" zusammen - trotz teils völlig unterschiedlicher Ideologien. Als Beispiel nannte Verfassungsschutz-Chef Jürgen Kayser die Gruppe "Aufbruch Leverkusen", wo sich bekannte Islamisten, Rechtsextremisten und prorussische Aktivisten zusammengefunden hätten.
Taten durch Einzelgänger
Besonderes Augenmerk warf Reul auch auf die Bedrohung durch alleinhandelnde Täter, die der Verfassungsschutz mittlerweile als "große Gefahr" und riesige Herausforderung sehe.
Erst vergangene Woche nahm die Polizei in NRW drei Jugendliche zwischen 15 und 16 Jahren fest, die verdächtigt werden, islamistisch motivierte Terroranschläge geplant zu haben. Sie hätten in Verbindung gestanden mit weiteren Jugendlichen in der Schweiz. Aus Sicherheitskreisen hieß es, dass bei der Motivation der Jugendlichen auch islamistische Influencer eine Rolle gespielt hätten.
"Frauen in die letzte Reihe"
Reul beschrieb die Rolle islamistischer Influencer in sozialen Medien wie Tiktok als großes, offenbar bislang kaum kontrollierbares Problem. Er zeigte den Journalisten Beispielvideos, in denen junge Männer in deutscher Sprache eine islamistische Lebensweise auch hierzulande propagierten: Frauen hätten sich komplett zu verhüllen und gehörten "in die letzte Reihe", der Kontakt zu "Ungläubigen" sei zu vermeiden, die deutschen Medien würden Unwahrheiten über den Islam verbreiten.
Erstmals enthält der neue Verfassungsschutzbericht gesondert den Bereich "Tatmittel Internet". 1.859 Fälle wurden insgesamt registriert, bei knapp 400 Internet-Straftaten ging es um Hasskriminalität von rechts.
Tiktok ohne Verfassungsschutz
Der Innenminister forderte mehr "Medienkompetenz", auch Eltern hätten darauf zu achten, was ihre Kinder so im Internet treiben. Das Internet, sagte Reul, sei "zur Spielwiese der Extremisten und Menschenfänger" geworden. "Nie war es leichter, Ideologien zu verbreiten, Propaganda für die eigene Sache zu machen und damit unzählige Menschen zu erreichen."
Auf die Frage nach Gegenprogrammen, die Jugendliche in genau denselben Medien abholen und aufklären könnten, war die Antwort sowohl des Innenministers als auch des NRW-Verfassungsschutzchefs Jürgen Kayser eher schwammig: Kayser erwähnte eine "interministerielle Arbeitsgruppe", die "das Thema Digitalisierung" zum Fokus habe. Man könnte "reden" über eigene Influencer oder "aufsuchende Sozialarbeit", schlug er vor, räumte aber ein, dass es vonseiten des Verfassungsschutzes "keinen neuen Vorstoß" gebe.
Allerdings, so Kayser, sehe er die Aufklärung der Gesellschaft auch nicht ausschließlich als Aufgabe des Verfassungsschutzes. Innenminister Reul verwies auf das Landes-Präventionsprogramm "Wegweiser", mit Beratungsstellen und einer Seite im Internet, auf der Jugendliche ein FAQ zu islamistischen Themen und eine Möglichkeit zum Chat mit Beratern finden.
SPD: "Keine Chance für Extremisten"
Die im Verfassungsschutzbericht 2023 genannten Zahlen seien "zutiefst bedrückend", erklärte Christina Kampmann, innenpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion am Donnerstag. "Sie machen uns mit Nachdruck klar, dass Extremisten und Verfassungsfeinde entschieden bekämpft werden müssen."
FDP: "Landesregierung schaut zu"
Die FDP-Fraktion schoss scharf gegen die Landesregierung: "Der Extremismus in NRW geht durch die Decke und die schwarz-grüne Landesregierung schaut schulterzuckend zu", erklärte der innenpolitische Sprecher Marc Lürbke. "Unter Innenminister Herbert Reul verschärft sich die Lage jeden Tag weiter." Reul beklage zwar, "dass immer mehr Hassprediger durch NRW ziehen", unternehme aber "nicht zugleich alles", um diesen die Bühnen zu entziehen. Lürbke forderte eine "umfassende Anti-Extremismus-Strategie", Schwarz-Grün müsse dafür dem Verfassungsschutz eine "große Verstärkungs-Offensive" gewähren.