Chaos im Thüringer Landtag I Aktuelle Stunde
02:48 Min.. Verfügbar bis 27.09.2026.
"Machtergreifung" in Thüringen? Parallelen zwischen AfD und NS-Zeit
Stand: 27.09.2024, 17:26 Uhr
Das Wahl-Chaos im Thüringer Landtag ist beendet. Trieb die AfD dort "Machtergreifung", wie die CDU kritisierte? Also ähnlich wie die Nazis 1933?
Von Jörn Seidel
Vergleiche zwischen der in Teilen rechtsextremen AfD und den Nationalsozialisten sind nicht neu. Ob sie angebracht sind, ist umstritten. Auch bei der ersten Sitzung des neuen Thüringer Landtags am Donnerstag erinnerte sich so mancher an die Nazi-Zeit. Der CDU-Abgeordnete Andreas Bühl warf Alterspräsident Jürgen Treutler (AfD) vor:
Aber stimmt das, ist der Vorwurf gerechtfertigt? Und welche anderen Parallelen lassen sich zwischen dem aktuellen Chaos in Thüringen und der Nazi-Zeit ziehen - oder besser nicht?
Politik-Rhetorik oder wissenschaftlicher Diskurs?
Constantin Goschler, Historiker
Historiker Constantin Goschler von der Ruhr-Universität Bochum betont, dass er nicht "lehrmeisterhaft" sein will, wenn er auf den Streit im Thüringer Landtag schaut. Man müsse unterscheiden zwischen politischer Rhetorik und wissenschaftlichem Diskurs, sagt er dem WDR. "Mal redet man auf der einen Ebene, mal auf der anderen."
Politisch sei die Wortwahl des CDU-Mannes verständlich, findet Goschler. Bühls Empörung sei für ihn nachvollziehbar.
"Machtergreifung" 1933: das Ende der Demokratie
Historisch betrachtet sei unter "Machtergreifung" allerdings etwas anderes, viel tiefgreifenderes zu verstehen, so Goschler. Gemeint ist die Abschaffung der Demokratie nach der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler im Jahr 1933.
Berufung Hitlers zum Reichskanzler, 30. Januar 1933. Das Kabinett (von links): Franz Seldte, Günter Gereke, Johann Ludwig Schwerin von Krosigk, Wilhelm Frick, Werner von Blomberg, Alfred Hugenberg; sitzend: Hermann Göring, Adolf Hitler und Franz von Papen.
Hitlers Regierungszeit begann mit einer Auflösung des Reichstags. Kurz danach schränkte die Regierungskoalition die Presse- und Meinungsfreiheit ein. Wenige Wochen später wurde das Ermächtigungsgesetz erlassen.
Mit dieser Entmachtung des Parlaments konnte Hitlers Reichsregierung praktisch selbst Gesetze erlassen. Es war das Ende der Gewaltenteilung und der Anfang der totalitären Diktatur des Nationalsozialismus, die in Krieg und Holocaust mündete.
Situation in Thüringen ist eine andere
Die Situation im Thüringer Landtag ist eine völlig andere. Zwar ist die AfD nun stärkste Fraktion. Aber die anderen Parteien - CDU, BSW, Linke und SPD - wollen mit ihr nicht koalieren. Sie wollen der AfD auch nicht das Amt des Landtagspräsidenten überlassen, für das die stärkste Kraft im Landtag ein Vorschlagsrecht hat.
Wiebke Muhsal (AfD)
Würde tatsächlich AfD-Wunschkandidatin Wiebke Muhsal zur Landtagspräsidentin gewählt werden, wäre das eine ernsthafte Gefahr den Landtag, meint Jurist Maximilian Steinbeis im WDR-Interview. "Sie hätte dann die ganze Landtagsverwaltung unter ihrer Kontrolle und könnte dann in einem ganz anderen Umfang Missbrauch treiben mit den Verfahren und den Institutionen des Parlaments".
Insofern gebe es doch gewisse Parallelen zur Machtübernahme der Nazis, meint Historiker Goschler:
Die Weigerung der anderen Parteien, der AfD das Amt des Landtagspräsidenten zu überlassen, war nach Ansicht von Jurist Steinbeis der Ausgangspunkt für das Chaos der ersten Sitzung. Alterspräsident Jürgen Treutler (AfD) verweigerte als Sitzungsleiter grundlegende Abstimmungen, mit denen sich der Landtag ordnungsgemäß aufstellt und handlungsfähig macht. Er verbot Abgeordneten das Wort, ließ Mikrofone abstellen, erteilte Ordnungsrufe und unterbrach mehrfach die Sitzung.
AfD-Fraktionschef und Landeparteischef Björn Höcke deutete die Chaos-Sitzung im Anschluss auf seine Weise. In einem Video für seinen X-Account bemängelt er, dass Abgeordnete wiederholt dem Alterspräsidenten "das Wort abgeschnitten" und sich selbst das Wort erteilt hätten. "Ein Bruch mit jeder parlamentarischen Kultur". Die "Kartellparteien" hätten diese "mit Füßen getreten", so Höcke.
Historiker Goschler: Täter-Opfer-Umkehr
Das sei "eine klassische Täter-Opfer-Umkehr", sagt Historiker Goschler. Und er erkennt eine weitere Parallele zu den Nazis: "Die Nationalsozialisten sprachen von Systemparteien. Höcke spricht von Kartellparteien." Damit meine er: "Es gibt Parteien, die vertreten nicht das Volk. Wir vertreten das Volk."
"Die AfD sagt: Wir vertreten die Demokratie." Genau darum gehe es letztlich, sagt Goschler: "um die Deutungshoheit darüber, was Demokratie ist".
Historische Vergleiche zwischen AfD und Nationalsozialisten könne man zwar ziehen, sagt der Historiker. Aber dabei müsse man auch aufpassen, dass man das Neuartige nicht übersieht.
Über dieses Thema berichteten wir am 27.09.2024 auch im WDR Fernsehen, um 18.45 Uhr in der "Aktuellen Stunde".
Unsere Quellen:
- WDR-Gespräch mit Historiker Constantin Goschler
- WDR-Gespräch mit Jurist Maximilien Steinbeis
- Nachrichtenagentur dpa
- Bundeszentrale für politische Bildung