Silvesternacht 2015: Gibt es seitdem mehr sexuelle Übergriffe durch Flüchtlinge?
Stand: 18.01.2024, 06:00 Uhr
In der Silvesternacht 2015 wurden hunderte Frauen in Köln Opfer sexueller Übergriffe. Viele der Tatverdächtigen waren Ausländer. Was hat sich seither verändert? Fakten und Hintergründe.
Von Jörn Kießler und Nandor Hulverscheidt (Daten)
Acht Jahre ist es her, dass die Silvesternacht 2015 am Kölner Hauptbahnhof eskalierte. Mehr als 1.600 Straftaten wurden danach bei der Polizei zur Anzeige gebracht - rund 500 davon wegen sexualisierter Übergriffe. Hunderte Frauen wurden in dieser Nacht bedrängt, begrapscht, angegriffen und einige sogar vergewaltigt.
Im Nachgang ermittelte die Polizei fast 300 Tatverdächtige, darunter Deutsche, Iraker, Syrer und Tunesier, wie es im Schlussbericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Silvesternacht heißt. Das Gros der mutmaßlichen Täter bestand demnach aber aus Nordafrikanern, genauer gesagt: " 81 Personen aus Algerien und 83 Personen aus Marokko".
Umfrage: Zuwanderung größtes Problem
Dass weit mehr als die Hälfte der Verdächtigen Ausländer waren - einige von ihnen Flüchtlinge und abgelehnte Asylbewerber -, führte zu Empörung. Immer mehr Menschen in Deutschland betrachten die Zugewanderten seitdem kritisch. Die Silvesternacht wurde so zu einem Wendepunkt in der Migrations-Debatte. Mit den Auswirkungen, die diese Nacht bis heute auf die Menschen in Deutschland hat, beschäftigt sich der WDR-Podcast "CUT - Das Silvester, das uns verfolgt".
Wie sehr die Zuwanderung die Menschen bewegt, lässt sich an Umfragen sehen. Schon im Januar 2016 gaben 71 Prozent der Befragten im ARD-Deutschlandlandtrend an, dass sie Flüchtlinge, Asyl, Zuwanderung und Integration für die wichtigsten Themen halten, um die sich die Bundesregierung kümmern müsse.
Acht Jahre später landete das Thema Zuwanderung auch bei einer repräsentativen Umfrage von infratest dimap im Auftrag des WDR auf dem ersten Platz. Allerdings bewerteten nur 41 Prozent der Befragten in NRW im November 2023 es als das wichtigste politische Problem.
Zerrbild von kriminellen Zuwanderern
Genutzt wird diese Stimmung von rechten Gruppierungen und Parteien. Vor allem die AfD nutzt jede Gelegenheit, um das Bild des kriminellen Flüchtlings zu zeichnen, der "Brandstiftung, Hinterhalte auf Einsatzkräfte und sexuelle Übergriffe auf Frauen" begeht, wie die NRW-AfD pünktlich zum vergangenen Jahreswechsel auf ihrer Website erklärte.
Im Mai 2023 stellten drei Abgeordnete der AfD-Fraktion im Bundestag eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung, weil sie wissen wollten, wie sich die Zahl der Gruppenvergewaltigungen und der ausländischen Tatverdächtigen in den vergangenen Jahren entwickelt hat.
Da Gruppenvergewaltigung kein feststehender juristischer Begriff ist und noch keiner Strafvorschrift zugeordnet werden kann, musste die Bundesregierung eine Sonderauswertung beauftragen. Diese berücksichtigte den Straftatbestand "Vergewaltigung", wenn er nicht von einer einzelnen Person begangen wurde.
Die Bundesregierung verweist allerdings darauf, dass die Daten nicht exakt vergleichbar seien, weil die Methodik zwischen 2016 und 2018 zweimal geändert wurde. Der Vergleich von Zahlen vor und nach diesen Jahren untereinander ist aber aussagekräftig.
Zahl der Gruppenvergewaltigungen steigt rapide
Was die Sonderauswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zeigt: Die Zahl der Gruppenvergewaltigungen ist von 2015 auf 2016 auf 749 Fälle gestiegen und hat sich damit nahezu verdoppelt.
Der Anteil der nichtdeutschen Tatverdächtigen nahm um fast elf Prozentpunkte auf 56,2 Prozent zu. Allerdings gab es auch schon in früheren Jahren hohe Zahlen bei Gruppenvergewaltigungen. Im Jahr 2010 zum Beispiel waren es 593. Der Anteil der ausländischen Tatverdächtigen war damals wesentlich geringer.
Seit 2018 ist die Zahl der Gruppenvergewaltigungen mit leichten Schwankungen etwa konstant. Auch der Anteil der ausländischen Tatverdächtigen schwankt nur in geringem Maße. Im Jahr 2022 lag er bei 50,1 Prozent. Damit sind Ausländer in diesem Deliktfeld immer noch sehr stark überrepräsentiert.
"Dazu muss man sagen, dass nur ein ganz kleiner Teil der ausländischen Bevölkerung mit solchen schwerwiegenden Delikten auffällt", sagt der Kriminologe Christian Walburg von der Universität Münster. Im Verhältnis zum Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung, seien diese Tatverächtigen aber "stark überrepräsentiert."
Der Ausländeranteil an der gesamten Bevölkerung in Deutschland lag 2022 bei 14,6 Prozent.
Zunahme bei Vergewaltigungen
Ähnlich sieht es aus, wenn man in die jährlichen Kriminalstatistiken des BKA schaut. So stieg die Zahl der Tatverdächtigen bei Vergewaltigungen, sexueller Nötigung und Übergriffen von 2016 auf 2017 sprunghaft von 6.475 auf 9.414 an - das entspricht einer Zunahme von mehr als 45 Prozent. Allerdings ist dieser steile Anstieg nicht nur durch die Zunahme von ausländischen Tatverdächtigen begründet. Vielmehr wuchs auch die Zahl der deutschen Tatverdächtigen um mehr als 50 Prozent.
Der Kriminologe Christian Walburg
Gerade mit Blick auf die ausländischen Tatverdächtigen rät Walburg ohnehin zur Vorsicht. "Man muss bedenken, dass wir bei der Polizeistatistik nur mit dem Hellfeld der Kriminalität zu tun haben, also mit den entdeckten und angezeigten Taten." Vor allem im Bereich der Sexualdelikte gebe es ein sehr großes Dunkelfeld.
Durch Bevölkerungsbefragungen könnten Kriminologen aber Einschätzungen über dieses Dunkelfeld treffen. "Ein großer Teil der Sexualdelikte und der Vergewaltigungen finden demnach eher im sozialen Nahraum statt", so Walburg. Der fremde Täter sei eher die Ausnahme.
Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Zahl der tatverdächtigen Asylbewerber, Schutzberechtigten und Geduldeten. Auch in dieser Gruppe (in der Grafik: Flüchtlinge/Asylbewerber) steigt die Zahl der Tatverdächtigen von 2016 auf 2017. Ab dann fällt die Kurve aber als einzige, während die Zahl der Tatverdächtigen in allen anderen Gruppen ab 2019 wieder zunimmt.
Anteil der Ausländer an Bevölkerung steigt
Derselbe Trend lässt sich beobachten, wenn man auf die relativen Zahlen schaut, also den Anteil, den die einzelnen Gruppen an der Gesamtheit der Tatverdächtigen einnehmen. Hier bleibt der Anteil der ausländischen Tatverdächtigen seit 2016 nahezu konstant, der Anteil der Flüchtlinge geht ab 2018 zurück. Die rechtspopulistische Erzählung, dass vor allem Flüchtlinge für die Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffe in Deutschland verantwortlich sind, lässt sich mit diesen Zahlen nicht belegen.
Was allerdings auffällt: Der Anteil der ausländischen Tatverdächtigen ist mehr als doppelt so hoch wie der Anteil von Ausländern an der Bevölkerung in Deutschland.
Entwurzelte junge Männer
Dafür gibt es nach Ansicht Walburgs mehrere Ursachen. "Einerseits haben wir es da häufig zu tun mit jungen Männern in einer sehr speziellen Lebenssituation: wenig eingebunden, teilweise auch sozial entwurzelt", so der Kriminologe. "Und da steigen allgemein die Risiken für gewaltsames Verhalten, aber eben auch für Sexualdelikte in Zusammenhang mit Gewalt."
Dazu komme, dass einige der Täter durch ein sehr traditionelles Männlichkeitsbild geprägt seien, das sexuelle Übergriffe zusätzlich begünstigen könne.
Um welche Herkunftsländer es sich dabei handelt, lässt sich auch an den Zahlen der PKS ablesen. Vergleicht man den Anteil von Tatverdächtigen bestimmter Nationalitäten mit dem Anteil der Nationalität an der Bevölkerung in Deutschland wird deutlich, dass dort oft Länder vertreten sind, in denen bis vor wenigen Jahren Krieg herrschte oder immer noch herrscht: Syrien, Afghanistan, Irak.
In vielen Fällen sind zudem Tatverdächtige aus muslimisch geprägten Ländern stark überrepräsentiert. Dazu zählen Tatverdächtige aus dem Iran, dem Kosovo, Marokko oder Pakistan.
Das Frauenbild in muslimischen Ländern
Für die türkische Frauenrechtlerin Seyran Ates zeigen diese Zahlen, dass "wir es mit jungen Männern zu tun haben, die aufgewachsen sind mit einem Frauenbild, nach dem Frauen nicht so viel wert sind wie Männer". Zudem handele es sich oft um Männer, die sexuelle Erfahrungen nur als Gewalt gegen Frauen kennen würden.
Die Frauenrechtlerin Seyran Ates
Für viele der jungen Männer, die so aufgewachsen sind, sei es wie eine Art Schock, wenn sie dann nach Deutschland kommen. "Sie haben gehört, dass in Deutschland alles so frei sei, und denken dann, dass alles, was in ihrem Heimatland reglementiert sei, hier erlaubt ist", sagt die Rechtsanwältin.
Rückwärtsbewegung bei Geschlechterrollen
In diesem Zusammenhang dürfe man laut Ates auch nicht die Menschen vergessen, die schon länger in Deutschland leben. Auch bei Muslimen, die in der zweiten, dritten oder vierten Generation in Deutschland sind, könne man teilweise eine Rückwärtsbewegung bei den Geschlechterrollen beobachten.
So sind beispielsweise türkische Tatverdächtige im Vergleich zum Anteil der türkischen Bevölkerung in Deutschland in der Polizeistatistik überrepräsentiert. Das gilt allerdings auch für einige andere, nicht-muslimische Länder wie Bulgarien und Serbien.
Verhältnismäßig viele ausländische Tatverdächtige
Zusammenfassend kann man sagen: Ausländer sind als Tatverdächtige im Deliktbereich "Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und Übergriffe" deutlich überrepräsentiert. Trotzdem muss man die Zahlen differenziert betrachten.
Wichtig in diesem Zusammenhang: Es handelt sich um Verdächtige, nicht um überführte Täter. Laut dem Kriminologen Christian Walburg gibt es Hinweise darauf, dass Menschen dazu tendieren, fremd wirkende Personen eher anzuzeigen, als Menschen, die uns ähnlich sind oder aus einem ähnlichen Umfeld kommen. Auch dieser Aspekt kann eine Statistik beeinflussen.
Auffällig ist zudem, dass überproportional viele Tatverdächtigen aus muslimischen Ländern stammen oder aus Staaten, in denen Krieg herrscht oder bis vor kurzem herrschte. Der Anteil der Flüchtlinge bei den Tatverdächtigen im Bereich "Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und Übergriffe" sinkt hingegen seit einigen Jahren stetig.
Unsere Quellen:
- Kleine Anfrage der AfD-Fraktion zu Gruppenvergewaltigungen
- Polizeiliche Kriminalstatistiken des BKA von 2012 bis 2022
- ARD-Deutschlandtrend Januar 2016
- NRW-Trend November 2023
- Statistisches Bundesamt
- Interview mit dem Kriminologen Dr. Christian Walburg, Uni Münster
- Interview mit der türkischen Frauenrechtlerin Seyran Ates