Zurückweisung an den Grenzen? | WDR aktuell
02:07 Min.. Verfügbar bis 10.09.2026.
Interview zur Migrationspolitik: "Union nutzt Schwächen der Ampel aus"
Stand: 10.09.2024, 19:20 Uhr
Die Union ist im Bundestag in der Opposition, treibt aber die Ampel in Sachen Migrationspolitik vor sich her. Ein Interview hierzu mit dem Düsseldorfer Politologen Stefan Marschall.
Erst hatte er lange gezögert, ob CDU/CSU am Migrationsgipfel bei Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Dienstagnachmittag teilnehmen sollte, dann gab er grünes Licht - und nun das: Unionsfraktionschef Friedrich Merz hat die Gespräche mit der Ampel-Regierung über eine Verschärfung der Migrationspolitik für gescheitert erklärt. Die Koalition sehe sich offensichtlich nicht zu umfassenden Zurückweisungen an den deutschen Staatsgrenzen in der Lage, sagte der CDU-Vorsitzende in Berlin. "Damit ist der Versuch gescheitert, einen gemeinsamen Weg zu gehen", fügte er hinzu. Wie ist die Strategie der Union beim Thema Migration einzuschätzen? Ein Interview mit dem Düsseldorfer Politologen Prof. Stefan Marschall.
WDR: Herr Marschall, die Ampelparteien haben aktuell 415 Sitze im Bundestag, die Union lediglich 197. Dennoch "treiben" CDU/CSU die Regierungsparteien vor sich her, so eine derzeit gern gewählte Formulierung. Trifft das zu, kann man das so sagen?
Politikwissenschaftler Stefan Marschall
Stefan Marschall: Ja, das kann man durchaus so sagen, dass die Union die Regierungsparteien vor sich her treibt. CDU/CSU nutzen die Konflikte, die es innerhalb der Ampel-Koalition gibt, aus und setzen so die Bundesregierung unter Druck. Die Union weiß, dass die Regierungspartei FDP inhaltlich auf ihrer Seite ist - im Gegensatz zu SPD und Grünen. Allerdings muss man auch festhalten, dass die Union von der Sache her bei den Migrationsgesprächen dabei sein muss. Ohne ihre Zustimmung sind rechtliche Vorgaben zur Änderung der Migrationspolitik auf Länderebene nicht durchsetzbar.
WDR: Aber um noch einmal auf das "Treiben" zurückzukommen: Zum Treiben gehören ja immer zwei: Einer, der treibt, und einer, der sich treiben lässt. Warum funktioniert offenbar das Vorgehen von Merz?
Marschall: Die Union kann die Regierung treiben, weil die Ampel-Koalition geschwächt ist. SPD, Grüne und FDP haben bei den jüngsten Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen herbe Stimmenverluste hinnehmen müssen. In Umfragen schneidet die Union aktuell gut ab, die Ampel-Parteien indes weniger gut. Das gibt CDU/CSU viel Selbstbewusstsein. Für sie ist momentan die Oppositionsarbeit einfach. Weil eben die Ampel-Koalition keine einheitliche Linie hat, sondern zerrissen ist.
WDR: Aber trotzdem könnte doch die Ampel etwas kühler auf die Ultimaten und Drohungen von Friedrich Merz reagieren und sinngemäß sagen "Danke für die Vorschläge, Herr Merz, aber wir haben eine stabile Mehrheit und kommen schon zurecht."
Marschall: Ja, aber die Koalition versucht eben auch, die Union zu vereinnahmen. Sie holt die größte Oppositionsfraktion im Bundestag auch deswegen mit ins Boot, damit sie später nicht hingehen und die Migrationsbeschlüsse kritisieren kann. Tut sie es doch, können Vertreterinnen und Vertreter der Ampel-Koalition sagen: Ihr habt das doch mitgetragen, was soll das jetzt?
WDR: Welche Rolle spielt hierbei die AfD?
Marschall: Es ist sowohl Wille der Ampel-Koalition als auch der Wille der Union, das Thema Migration und Sicherheit in Deutschland so zu behandeln, damit der AfD bei dem Thema der Boden entzogen wird und die AfD damit nicht weiter punkten kann. Die AfD hat immer wieder eine Kehrtwende in der Migrationspolitik propagiert, dieses Vorhaben hat nun die Union übernommen. Die Ampel-Koalition will nun auch Veränderungen in der Migrations- und Sicherheitspolitik, nicht zuletzt nach dem Messeranschlag von Solingen mit drei Toten.
WDR: Ist es nicht auch riskant, wenn sich die Union als Opposition so sehr auf die Regierung einlässt? Die Gefahr besteht ja durchaus, dass am Ende ein Gesetz mit Unions-Beteiligung entsteht, das nicht wirklich funktioniert und kaum Wirkung zeigt, man aber damit assoziiert wird.
Marschall: Die Union ist in einem Dilemma: Einerseits kann und möchte sie sich dem Thema nicht entziehen, andererseits möchte sie aber ganz gewiss nicht für einen Kompromiss in Haft genommen werden, wenn es nicht funktioniert. Und eigentlich möchte sie sich ja auch ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl den Wählerinnen und Wählern als Alternative zur derzeitigen Ampel-Koalition präsentieren.
Kein leichtes Unterfangen, wenn die Union jetzt gemeinsam mit der Bundesregierung in Sachen Migrationspolitik an einem Tisch sitzt. Andererseits sind auch die Ultimaten und Drohungen von Merz eine Chance, dass die Union die Aufmerksamkeit auf sich lenkt und sie sich so vor der nächsten Bundestagswahl profiliert.
WDR: Im Moment wirkt die Union sehr aktiv, aber wird sich das tatsächlich bei den nächsten Wahlen auszahlen? Oder profitiert beim Thema "Asylpolitik verschärfen" am Ende doch die AfD?
Marschall: Der Union wird in Umfragen eine hohe Kompetenz beim Thema Asylpolitik bescheinigt. Ich gehe davon aus, dass sie deswegen bei Wahlen punkten wird. Allerdings wird in Sachen Asylpolitik auch die AfD als kompetent angesehen. Fest steht, dass die Themen Migration und Sicherheit bei der Bundestagswahl, aber auch bei der in Kürze anstehenden Landtagswahl in Brandenburg am 22. September eine wichtige Rolle spielen werden und die Wähler genau schauen werden, welche Partei das bessere Konzept hat.
Mit Blick auf die anstehende Brandenburg-Wahl ist für die Union zentral, mit den Ampel-Parteien Vereinbarungen mit Blick auf die Migrationspolitik zu treffen, die deutlich die Handschrift von Merz tragen - oder, wenn das nicht funktioniert, der Ampel Entscheidungsschwäche vorzuwerfen.
Das Interview führte Sabine Meuter.