Steinmeier sprach beim Kultur- und Begegnungsfest „Birlikte - Zusammenstehen“ im Kölner Stadtteil Mülheim. Der Auftritt des deutschen Staatsoberhaupts hatte sich verzögert. Bei einer Prüfung des Veranstaltungsortes habe ein Sprengstoffhund an einem Hydranten angeschlagen, sagte ein Polizeisprecher. Der Bereich sei daraufhin abgesperrt worden. Eine Überprüfung sei aber negativ verlaufen. Die Veranstaltung könne beginnen, hieß es dann am frühen Nachmittag.
Der Bundespräsident erinnerte an das Leid der Opfer durch den Terrorakt und die fehlgeleiteten Ermittlungen danach. „Wir alle sind zusammen hier, weil es wichtig und auch dringlich ist, dass wir die Geschichten und den Schmerz derjenigen sehen, hören und würdigen, die heute vor 20 Jahren hier schwer an Leib und Seele verletzt und dazu auch noch zu Unrecht verdächtigt wurden.“ Es müsse das Vertrauen in den Rechtsstaat erneuert werden, wo es gelitten habe.
Später sei dann oft die Notwendigkeit in den Hintergrund gerückt, die Geschichten der Opfer und ihrer Angehörigen zu hören, ihre Erinnerungen wahrzunehmen, beklagte Steinmeier. „Dies bleibt beschämend für unser Land.“
Mit dem Wissen von heute sei klar, dass schon in den 1990er-Jahren der Staat den Rechtsextremismus systematischer beobachten und entschlossener hätte bekämpfen müssen, wandte sich Steinmeier direkt an die Betroffenen des Anschlags. Diese Erkenntnis wiege schwer. „Wir alle sind auch deshalb hier, weil wir angesichts dieser Erinnerung ein Zeichen fürs Heute setzen wollen“, erklärte der Bundespräsident.
Gedenkfestival Birlikte soll an Anschlag erinnern
Die Veranstaltung in Köln sollte an die Opfer des NSU-Bombenanschlags vor 20 Jahren am 9. Juni 2004 in der Keupstraße erinnern. Die Polizei ermittelte jahrelang in der türkischen Community, bevor sich herausstellte, dass die Täter Rechtsextremisten der Terrorzelle NSU waren.
Auch NRW-Ministerpräsident Wüst nahm am Sonntag an dem Gedenkfest teil. Der CDU-Politiker sprach am Tag zuvor in einem Gastbeitrag für den "Kölner Stadt-Anzeiger" und die türkische Zeitung "Hürriyet" von schweren Fehlern der staatlichen Behörden. "Der Staat, dessen vorderste Aufgabe es ist, die Menschen zu schützen, muss eingestehen, dass er in der Keupstraße an diesem Anspruch gescheitert ist."
Viele Bürger hätten körperliche und seelische Schäden erduldet und seien dann auch noch mit falschen Verdächtigungen konfrontiert worden. "Als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen bitte ich deshalb alle, denen so lange nicht geglaubt wurde und die fälschlicherweise selbst ins Visier der Ermittlungen gerieten, obwohl sie Opfer waren, um Entschuldigung."
22 Verletzte, einige von ihnen in Lebensgefahr
Am 9. Juni 2004 waren bei der Explosion einer Nagelbombe in der migrantisch geprägten Keupstraße im Stadtteil Mülheim 22 Menschen verletzt worden, einige von ihnen lebensgefährlich.
Erst im Jahr 2011 war ans Licht gekommen, dass der Anschlag von Mitgliedern der bis dahin völlig unbekannten rechtsextremistischen Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) verübt wurde. Insgesamt zehn Morde gingen auf das Konto des NSU. In den Medien war die Mordserie unter der abfälligen Bezeichnung "Döner-Morde" bekannt geworden.
Wüst: "Engstirniges Denken in geistigen Schubladen"
Sogar gegen Betroffene des Keupstraßen-Anschlags und ihre Angehörigen hatte die Polizei ermittelt. Viele von ihnen fühlten sich ohnmächtig angesichts der falschen Verdächtigungen - sie wurden nach dem Anschlag ein zweites Mal zum Opfer gemacht. Auch "engstirniges Denken in geistigen Schubladen" seien die Ursache für die Ermittlungsfehler gewesen, erklärte Wüst. Polizei und Justiz hätten daraus ihre Lehren gezogen.
Anwohner kritisiert Umgang mit Betroffenen - bis heute
Im WDR kritisierte am Samstag Kutlu Yurtseven, Schauspieler und Anwohner der Keupstraße, den heutigen Umgang des Staates mit den Opfern. Auch nach der Enttarnung des NSU seien die Betroffenen nicht immer menschlich behandelt worden. "Viele müssen immer wieder beweisen, dass sie traumatisiert sind. Und das jedes Jahr, immer noch. Viele haben gar keine psychologische Betreuung bekommen."
Quellen
- WDR-Recherchen
- Nachrichtenagenturen epd, AFP, und dpa
- Kölner Stadt-Anzeiger
- Interview mit Kutlu Yurtseven
- Stadt Köln
Über dieses Thema berichtet der WDR am 09.06.2024 auch im Fernsehen in der "Aktuellen Stunde" um 18.45 Uhr.