Was Freitagabend im Weißen Haus passiert ist, das wird man rückblickend vielleicht als historisch beschreiben müssen. Der britische Premier hat das schon gemacht. Er sagt: "Wir stehen an einem historischen Scheideweg."
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Selenskyi und Trump im Weißen Haus
Vor laufenden Kameras war es zum Bruch zwischen US-Präsident Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gekommen. Seitdem rutscht die Weltordnung in den Krisenmodus.
Beim Ukraine-Treffen in London hat sich jetzt eine "Koalition der Willigen" formiert. Angeführt wird sie von Großbritannien und Frankreich. Im Interview ordnet Rafael Loss, Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik im europäisch-atlantischen Raum beim European Council on Foreign Relations, die Ergebnisse ein — und sagt, was Europa jetzt tun muss und wie es mit der deutschen Bundeswehr jetzt weitergehen sollte.
Wie bewerten Sie die Ergebnisse aus London, unter anderem den angedachten einmonatigen Waffenstillstand, die Waffenruhe?
Rafael Loss: Ich denke, zuerst einmal muss man dem britischen Premierminister dazu gratulieren, hier so ein ruhiges, besonnenes und auch effektives Treffen abgehalten zu haben nach all dem Chaos der letzten Tage.
Sicherlich sind die Ergebnisse ein Schritt eines Prozesses, eines Prozesses der Realisierung unter den Europäern, dass man sich nicht mehr in allen Fragen vollständig auf die Vereinigten Staaten unter Donald Trump verlassen kann und entsprechend eine größere Last zur Sicherheit in Europa wie auch zur Sicherheit der Ukraine tragen muss. Und das hat der britische Premierminister auch gesagt.
Man wird versuchen, hier über die guten Gesprächskanäle, die Großbritannien nach Washington hat, weiterhin die USA an Bord zu halten. Rafael Loss, Sicherheitsexperte beim European Council on Foreign Relations
WDR: Ohne die USA geht es nicht. Das sehen auch die Teilnehmer des gestrigen Treffens so. Die Amerikaner stellen ja grundsätzliche Sicherheiten zur Disposition. Wie muss sich Europa Ihrer Ansicht nach angesichts dieser amerikanischen Abkehr nun aufstellen?
Rafael Loss: Sicherlich wird es schwierig ohne die USA. Aber gegebenenfalls muss es eben auch ohne die USA gehen. Und das ist eine intellektuelle Herausforderung, auch, glaube ich, für viele Staats- und Regierungschefs und -chefinnen in Europa, die ja sozusagen aus der Historie des Kalten Krieges und der Zeit nach dem Kalten Krieg eben auf einen verlässlichen transatlantischen Partner haben blicken können. Wir haben Strukturen in der NATO und anderen Formaten gebildet, die diese Verlässlichkeit abbilden sollten und auch über viele Dekaden abgebildet haben.
Und dass hier jetzt tatsächlich so ein Bruch vollzogen wird, man muss ja fast den Eindruck gewinnen, dass die Trump-Administration nach jeder Gelegenheit sucht, um hier das transatlantische Verhältnis zu zerrütten und gleichzeitig eben die Beziehungen zu Russland zu normalisieren.
WDR: Sie sprechen von einer intellektuellen Herausforderung für die Europäer. Müssen sie einen Mindshift hinbekommen und sich wirklich wieder auf den Kontinent konzentrieren, die Blickrichtung wechseln?
Rafael Loss: Also sich allein auf den Kontinent zu konzentrieren, glaube ich, würde nicht reichen angesichts der globalen Herausforderungen, mit denen wir auch umgehen müssen. Die Sicherheitsherausforderungen sind Russlands aggressiver Imperialismus auf der einen Seite und auf der anderen eben auch das Potenzial eines amerikanischen Imperialismus. Die Rhetorik zu Grönland etwa oder der Mineralien-Deal mit der Ukraine: Das sind ja imperialistische Töne, die da aus dem Weißen Haus anklingen.
Damit wird man umgehen müssen und das wird erfordern, nicht nur immer mehr Geld in die Verteidigung zu investieren, sondern eben auch über neue Strukturen zwischen den Europäern nachzudenken, die man bisher vernachlässigt hat.
WDR: Sie sagen, man braucht nicht nur immer mehr Geld, aber grundsätzlich braucht man ziemlich viel Geld. Milliarden werden nötig sein. Braucht es dann einen gemeinsamen Topf für Verteidigung, wie es zum Beispiel Ursula von der Leyen anregt?
Rafael Loss: Man braucht auf jeden Fall sehr viel mehr Geld, aber damit ist es eben nicht getan. Und wenn es neue Töpfe geben sollte auf europäischer Ebene, dann wäre das sicherlich wünschenswert. Das würde einen höheren Wirkungsgrad erzielen, was etwa die gemeinsamen Beschaffungen betreffen würde, als wenn jetzt in einer zweiten Zeitenwende jeder seine eigene Rüstungsindustrie mit vielen Milliarden aufzupäppeln versucht.
Natürlich ist die Zeit drängend.Wir haben Analysen von Geheimdienstlern gehört, dass Russland in wenigen Jahren bereit sein könnte, die NATO in Europa zu testen. Und darauf muss man sich einstellen: materiell, aber auch personell und dann vom Mindset eben.
WDR: Lassen Sie uns beim Personellen mal nach Deutschland gucken. Es wird jetzt unter anderem sehr viel darüber gesprochen, dass die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt werden sollte. Kann die Bundeswehr das überhaupt verkraften? Alle Überlegungen waren in vielen Jahrzehnten jetzt genau in die andere Richtung. Also selbst wenn wir jetzt wieder mehr Soldatinnen und Soldaten bekämen, wären die so schnell zu integrieren?
Rafael Loss: Das ist genau einer der Punkte, von denen ich sagen würde, dass wir das in den vergangenen drei Jahren verpasst haben, diese wegweisende Entscheidung zu treffen. Bundesverteidigungsminister Pistorius hatte vorsichtige Ansätze, die aber direkt von seiner eigenen Partei und Bundeskanzleramt torpediert wurden. Da ging es um die Wehrpflicht und darum, mit der Ausweitung der Bundeswehr personell voranzuschreiten.
Sicherlich wäre es falsch, wenn jetzt zusätzliche Mittel für die Verteidigung allein wieder in die Beschaffung neuen Materials gingen. Wenn es eine einen personellen Aufwuchs geben sollte, dann müsste man natürlich auch in die Infrastruktur investieren. Der Bund hat in den letzten 30 Jahren viele Kasernen veräußert. Truppenübungsplätze, die Kapazitäten wurden zurückgefahren. Das muss alles aufgefahren werden, um dann eben eine Bundeswehr von 230.000 plus Soldatinnen und Soldaten gewährleisten zu können.
Das Interview führte Ulrike Römer.
Unsere Quellen:
- WDR-Interview mit Rafael Loss, Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik im europäisch-atlantischem Raum beim European Council on Foreign Relations