Es ist ein Nachmittag im Januar. Michelle Etienne steht auf dem Vorplatz des Kölner Hauptbahnhofs. Es ist fast menschenleer. Einige Leute eilen zu Gleisen oder schlendern Richtung Dom. Beamte vor und in Mannschaftswagen der Polizei blicken auf den Eingang des Bahnhofs.
Der Kontrast zwischen diesem Tag und dem, was Michelle Etienne in der Nacht vom 31. Dezember 2015 auf den 1. Januar 2016 erlebte, könnte kaum größer sein. Sie war mittendrin. Damals, als hier auf dem Platz vor dem Kölner Hauptbahnhof und auf den Treppen zum Dom das Chaos herrschte.
Dabei war es eigentlich Zufall, dass sie, ihr damaliger Freund und dessen Bruder überhaupt in diese Situation gekommen waren. Sie hatten auf einer der Rheinbrücken das Silvester-Feuerwerk angeschaut — dann musste einer von ihnen zur Toilette. Die drei entschieden, zum Kölner Hauptbahnhof zu gehen.
Tatort: Bahnhofsvorplatz
Auf dem Bahnhofsvorplatz nahm es seinen Lauf: die Menschenmenge, der enthemmte Mob, die Diebstähle, die sexuellen Belästigungen, die Vergewaltigungen, die Angst. Später kam die Wut auf die Täter dazu. Und am Ende auch die Diskussion um Migration, die seither immer mehr an Fahrt aufnimmt.
Der Erfolg der AfD, das Geheimtreffen von Rechtsextremisten und AfD-Politikern zur Vertreibung von Millionen Menschen aus Deutschland — all das dürfte im weitesten Sinne auch Folge dieser Nacht sein.
"Hier stimmt was nicht"
In dieser Nacht fand sich Michelle Etienne plötzlich in einer Menschenmenge wieder. Sie wurde von ihrem damaligen Freund und dessen Bruder getrennt. Die heute 29-Jährige erinnert sich an Massen, die auf sie drückten, sie einengten. Das sei der Moment gewesen, in dem sie merkte: "Hier stimmt was nicht." Sie hielt ihre Umhängetasche mit ihren Wertsachen eng vor ihrem Körper. Dann kam ein junger Mann auf sie zu.
In diesem Moment ließ Michelle Etienne ihre Tasche los und stieß den Mann mit ihren Händen von sich weg. "So fest ich konnte." Der Fremde ließ von ihr ab. Gleichzeitig griff hinten jemand an ihre Tasche und klaute das Portemonnaie.
Das erste, was Michelle Etienne durch den Kopf ging, war: "Das war ein Ablenkungsmanöver von Dieben." Erst nach und nach verstand sie, verstand die Polizei, verstanden Politiker und andere Menschen, was hier wirklich vor sich gegangen war: massenhafte Übergriffe im und um den Kölner Hauptbahnhof, bei denen vor allem Frauen Opfer von Straftaten geworden waren.
Während manche Betroffene noch in der Nacht Anzeige erstatten, meldeten sich viele andere erst Tage oder Wochen später bei der Polizei. Auch Michelle Etienne erstatte Anzeige - gegen unbekannt. Sie stellte der Polizei sogar ihre Hose aus der Silvesternacht zur Verfügung: zur Spurensicherung. Ein Täter wurde nie ermittelt.
Mehr als 1.600 Straftaten in einer Nacht
Nach dem, was in der Nacht passiert war, dauerte es, bis die Dimensionen greifbar wurden: Mehr als 1.600 Straftaten wurden nach der Silvesternacht bei der Polizei zur Anzeige gebracht — etwa 500 davon wegen sexualisierter Übergriffe. Es waren hunderte Frauen, die in dieser Nacht bedrängt, begrapscht, angegriffen worden waren. Einige waren sogar vergewaltigt worden.
Als Tatverdächtige identifiziert wurden 299 Personen — darunter Deutsche, Iraker, Syrer und Tunesier. Mehr als die Hälfte der identifizierten Tatverdächtigen aber stammten aus Nordafrika, genauer: 81 Personen aus Algerien und 83 Personen aus Marokko.
Zuwanderer als Tatverdächtige überrepräsentiert
Die Taten und die Vorfälle in Köln haben ein Schlaglicht geworfen auf ein Problem, das heute genauso drängend ist wie damals: Sexuelle Übergriffe von Männern mit Migrationshintergrund. Ein Blick auf die aktuelle Statistik zeigt: Ausländer sind als Tatverdächtige bei schweren Straftaten, wie Vergewaltigungen, in der Polizeistatistik überrepräsentiert.
Auch Christian Walburg kennt diese Zahlen. Er ist Rechtswissenschaftler an der Uni Münster und beschäftigt sich seit Jahren damit, wie Migration und Kriminalität zusammenhängen. Walburg sagt über Täter mit nicht-deutschen Pässen: In gewissen Teilgruppen spielten diese Taten eine etwas größere Rolle.
Fremde werden häufiger angezeigt
Wegzusehen, sei der falsche Weg. Allerdings sieht Walburg auch Hinweise darauf, dass Menschen dazu tendieren, Täter, die einem fremd vorkommen, eher anzuzeigen als Menschen, die vermeintlich aus dem gewohnten Umfeld stammen. Das könne eine Statistik beeinflussen.
Der Migrationsforscher Özgur Özvatan sagt, dass die Debatte um die Kölner Silvesternacht ein Problem generalisiert habe. Einige Menschen werden schneller verantwortlich gemacht als andere - aufgrund ihrer Herkunft und ihres Aussehens.
Auch Michelle Etienne, die damals noch in Nettetal im Kreis Viersen lebte und heute in Köln, spürt, dass sich gesellschaftlich etwas verändert hat in den Jahren seit den Übergriffen in Köln. Die Empörung über die Taten von damals kann sie verstehen. Eine Bevölkerungsgruppe wie Zuwanderer unter Generalverdacht zu stellen, hält sie persönlich aber für falsch.
Die Angst im Dunkeln bleibt
Natürlich, sagt sie, habe die Kölner Silvesternacht aber auch sie persönlich verändert. Die psychischen Auswirkungen seien schlimmer gewesen als das gestohlene Portemonnaie. Verarbeitet habe sie das alles vor allem in Gesprächen mit Freunden und der Familie. Heute sei sie vorsichtiger geworden, nicht mehr in jeder Situation so unbeschwert. Im Dunkeln in der Stadt etwa fühle sie sich häufiger unwohl. Das sei nicht so gewesen vor der Kölner Silvesternacht.
Wie die Kölner Silvesternacht zu einer Spaltung unserer Gesellschaft beigetragen hat, die bis heute anhält, darum geht es auch im neuen WDR-Doku-Podcast "Cut — Das Silvester das uns verfolgt“. Verfügbar ab sofort auf allen Podcast-Plattformen.
Unsere Quellen:
- WDR-Interviews mit der Betroffenen Michelle Etienne, Migrationsforscher Özgur Özvatan und Rechtswissenschaftler Christian Walburg
- Schlussbericht des Untersuchungs-Ausschusses zur Silvesternacht im NRW-Landtag