Heute Fluglots:innen, morgen Nahverkehr: Streiks!
Aktuelle Stunde . 01.02.2024. 02:46 Min.. UT. Verfügbar bis 01.02.2026. WDR. Von Anne Bielefeld.
Streikwelle: Werden Arbeitskämpfe in Deutschland härter?
Stand: 01.02.2024, 21:19 Uhr
Der Bahnstreik ist geschafft, doch neuer Stress kündigt sich an: Donnerstag werden die Flughäfen bestreikt, Freitag der Nahverkehr. Im internationalen Vergleich streiken Deutsche trotz allem wenig.
Von Andreas Poulakos
Es war einer der längsten Streiks in der Geschichte der Deutschen Bahn: Fünf Tage lang hatte die Lokführergewerkschaft GDL im Januar mit einem Warnstreik den Zugverkehr in Deutschland so gut wie lahmgelegt. Besonders der Fernverkehr war betroffen. Die Auswirkungen auf Millionen von Bahnkunden und für die Wirtschaft waren enorm.
Doch der Stress für Reisende und Arbeitnehmer ist längst noch nicht vorbei: Die Gewerkschaft Verdi hat am Donnerstag das Sicherheitspersonal an Flughäfen zum Warnstreik aufgerufen, am Freitag bleiben fast überall in Deutschland Busse und Straßenbahnen im Depot. Braucht es ein strengeres Streikrecht, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen, den einzelne Gewerkschaften wie die GDL im Bereich der kritischen Infrastruktur anrichten können?
Das zumindest forderte der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Reinhard Houben. Warnstreiks dürften nur eine "zeitliche, räumliche und von den Folgen begrenzte Ausnahmeentscheidung" sein. Auch CDU-Chef Friedrich Merz stellte Gesetzesänderungen zur Debatte: Der GDL-Arbeitskampf zeige, "dass unser System der Sozialpartnerschaft mit der Tarifautonomie nur dann funktioniert, wenn sich alle Beteiligten mäßigen", sagte er der "Rheinischen Post".
Gewerkschaften nicht mehr am Allgemeinwohl interessiert?
Haben die deutschen Gewerkschaften wirklich Maß und Mitte verloren? Boxen sie mitten in der Rezession die Interessen ihrer Mitglieder rücksichtslos durch - auf Kosten der Allgemeinheit? Menschen, die durch die aktuellen Streiks besonders betroffen sind, könnten diesen subjektiven Eindruck teilen - die Zahlen sprechen aber eine andere Sprache. Laut einem internationalen Vergleich des European Trade Union Institute (Etui) wird in Deutschland relativ wenig gestreikt.
Den Statistiken zufolge haben deutsche Arbeitnehmer zwischen den Jahren 2000 und 2022 deutlich seltener und kürzer die Arbeit niedergelegt, als beispielsweise die Kollegen und Kolleginnen im besonders streikfreudigen Frankreich. Selbst in Finnland, Dänemark und Norwegen wurde erheblich mehr gestreikt als in Deutschland. Es geht allerdings noch harmonischer: Mit nur zwei Streiktagen pro Jahr verlaufen Tarifkonflikte in der Schweiz offenbar besonders friedlich.
Eine Trendwende zu härteren und längeren Streiks lassen sich auch aus den jüngsten Zahlen nicht ableiten. Zwischen 2020 und 2022 ging laut Etui die durchschnittliche Streikdauer in Deutschland im Vergleich zum langjährigen Mittel sogar leicht zurück. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch in anderen europäischen Staaten verfolgen. Neuere Statistiken liegen noch nicht vor.
Streiks hatten große Auswirkungen auf den Alltag
Dass viele Menschen aktuell den Eindruck haben, Zeuge einer besonders harten Streikwelle zu sein, könnte eher an den beteiligten Branchen liegen: Bei Streiks der Metallindustrie waren in der Vergangenheit oft erheblich mehr Beschäftigte in den Ausstand getreten als in den aktuellen Tarifkonflikten - für die meisten Menschen hatte das aber so gut wie keine Auswirkungen auf ihren Alltag. Wenn hingegen bei der Bahn oder im ÖPNV gestreikt wird, die Kita zu bleibt oder der Müll nicht abgeholt wird, sieht es ganz anders aus.
Gewerkschaften treten kompromissloser auf
Deutschland galt bisher als eine sozialpartnerschaftlich ausgerichtete Nation, in der die Gewerkschaften eher auf Konsens und Kompromiss aus sind und seltener als in anderen Länder die Konfrontation suchen. Das könnte sich in Zukunft ändern: Nach langer Stagnation konnten die Gewerkschaften wieder mehr neue Mitglieder gewinnen. Das gilt für kleine Organisationen aber auch für die große Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Letztere meldete im vergangenen Jahr 193.000 neue Mitglieder.
Eine entscheidende Rolle hätten die großen und aus Verdi-Sicht erfolgreichen Tarifrunden etwa bei der Deutschen Post, im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen oder bei den Ländern gespielt, so Verdi-Chef Frank Werneke. Anders gesagt: Aggressive Arbeitskämpfe kommen bei den Beschäftigten offenbar gut an, wenn das Ergebnis stimmt. Viele Gewerkschaften könnten daraus eine Lehre ziehen.
Unsere Quellen:
- Etui: Strike map of Europe
- Deutsche Presse Agentur
- Agence France Press
- Pressemitteilungen von Verdi