Zerstochene Reifen und Kratzspuren an Autos mit dem GT-Kennzeichen, Beschimpfungen und jetzt auch noch Beherbergungsverbote: Seit dem Corona-Ausbruch im Fleischer-Großbetrieb Tönnies mit Hunderten von Infizierten hagelt es Anfeindungen gegen die Bewohner der Landkreise Gütersloh und Warendorf.
Jüngstes Beispiel: Mehrere Bundesländer haben Besuchern aus den Kreisen die Einreise die Einreise nur erlaubt, wenn sie belegen konnten, dass sie spätestens zwei Tage vorher einen Corona-Test gemacht haben. Andere verlangen, dass sie erst einmal 14 Tage in Quarantäne gehen, ehe sie sich frei bewegen können. Und weil immer mehr Länder nachziehen, gibt es immer weniger Ausweichmöglichkeiten. Für viele Betroffene heißt das: Der Urlaub findet nicht statt.
"Wir fühlen uns als Unschuldige"
Dazu kommt der Lockdown, der das öffentliche Leben bis Ende Juni lahmlegt - mindestens. Das schmerzt, aber genau so schlimm ist das Gefühl, stigmatisiert zu werden. "Wir fühlen uns schon als Unschuldige", sagt Kai Drees aus Steinhagen (Kreis Gütersloh). "Schließlich gibt es außerhalb von Tönnies kaum Infizierte." Das scheinen die Tests für Menschen, die nicht im Unternehmen arbeiten, zu belegen: Bis Donnerstag (25.06.2020) wurden 1.655 Abstriche ausgewertet, drei davon waren positiv.
Der Bürgermeister schwankt zwischen Trauer und Wut
Auch wenn die Länder inzwischen die Pflicht zum Attest auf ganz Deutschland ausweiten wollen: Ausdrücklich genannt werden immer wieder die Gütersloher und Warendorfer. Ein Generalverdacht, den der Gütersloher Bürgermeister Henning Schulz (CDU) "unerträglich" findet. Die Stimmung bei ihm und bei vielen anderen liegt "zwischen Trauer und Wut", zitiert ihn "T-Online" am Donnerstag (25.06.2020). "Im Prinzip ist alles kaputt."
Für ihn ist die Ausgrenzung genau die falsche Reaktion auf das Virus: "Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben", sagte er am Freitag (26.06.2020) im WDR-Fernsehen. Man könne nicht alle, die ein potenzielles Risiko darstellten, einfach ausgrenzen. "Das wird nicht funktionieren, das sieht man hier in Gütersloh."
Solidaritätsbekundungen aus Berlin
Schulz und die Menschen in Gütersloh bekamen Rückendeckung von oben: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) warnte vor einer Diskriminierung der Bürger aus Ostwestfalen, schließlich könne das Virus jeden in jeder Region zu jeder Zeit erwischen.
Ähnlich argumentierte Regierungssprecher Steffen Seibert: Es gebe in Deutschland weiterhin ein großes Ansteckungsrisiko. "Wir müssen einander gerade in schwierigen Situationen mit Respekt und Sympathie behandeln." Beschimpfungen und zerkratzte Autos seien ein "völlig inakzeptables und widerwärtiges Verhalten", gab Seibert im Namen der Kanzlerin weiter.
Merkel ruft bei Adenauer an
Die hatte dann das direkte Gespräch mit den Politikern bei Ort gesucht. Sie rief am Freitagvormittag (26.06.2020) den Gütersloher Landrat Sven-Georg Adenauer (CDU) an. Der ist Enkel Konrad Adenauers, einer der Amtsvorgänger Merkels. "Die Bundeskanzlerin hat Mut gemacht und sich bei mir bedankt", sagte Adenauer.
Die Bürgerinnen und Bürger des Kreises Gütersloh seien unverschuldet in die aktuelle Situation gekommen. Durch den Lockdown und den damit verbundenen Beschränkungen leisteten sie einen sehr wichtigen Beitrag, damit sich das Virus nicht in Deutschland ausbreiten kann.
Lichtblick für Warendorf
Für die Bewohner des Kreises Warendorf gibt es inzwischen einen Lichtblick: Am Nachmittag gab das Robert-Koch-Institut bekannt, dass dort ausschließlich Tönnies-Mitarbeiter infiziert sind und die Marke unter den entscheidenden Wert von 50 Infizierten auf 100.000 Einwohner gefallen ist.
Der Kreis gilt damit nicht mehr als Risiko-Gebiet, Bayern hat ihnen die Einreise wieder erlaubt. Anders der Kreis Gütersloh. Für deren Bewohner wird der Reise-Radius noch enger: Auch Hamburg will jetzt ein Beherbergungsverbot aussprechen. Am kommenden Mittwoch soll es in Kraft treten.