Ein Fluch lastet auf der trojanischen Prophetin Kassandra: Sie kann die Zukunft genau vorhersagen - aber niemand glaubt ihren Warnungen. Und so wird Troja zerstört, die Einwohner sterben zu Tausenden, Kassandra wird erdolcht.
Eine uralte Geschichte - aber aktueller denn je. Denn gerade jetzt fühlen sich viele Wissenschaftler wie Kassandra: Seit Monaten mahnen sie, aber es passiert nach ihrer Ansicht zuwenig, gar nichts oder das Falsche.
Frühe Warnungen
- Der Kölner Professor Michael Hallek warnt im April, die Lage in den Krankenhäusern sei besorgniserregend, man müsse auch Kontakte weiter einschränken, bis die Impfungen greifen.
- Leif Erik Sander von der Berliner Charité weist im Sommer darauf hin, dass der Impfschutz bei den Älteren nach einigen Monaten nachlässt.
- Virologe Christian Drosten empfiehlt schon kurz nach dem Beginn der Impfkapagne, an Booster-Impfungen zu denken.
- SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach erklärt im Sommer, dass es Impfdurchbrüche geben wird, also Infektionen auch bei vollständig Geimpften.
- Das RKI gibt gleichzeitig einen zehnseitigen Leitfaden zur Vorbereitung auf die Herbst- und Wintermonate voraus. Darin wird auch prognostiziert, dass die Inzidenzen bis Oktober stabil bleiben, danach aber ansteigen werden.
Öffentlich gemachte Wut
Tatsächlich: Die Zahl der Covid-Neuinfektionen geht steil nach oben, die der freien Intensivbetten sinkt. Das macht die Experten wütend - so wütend, dass sie öffentlich das Wort ergreifen. RKI-Chef Lothar Wieler zum Beispiel, der am Mittwochabend fast schon resignierend feststellte, dass 400 Erkrankte auch bei bester medizinischer Versorgung nicht mehr gerettet werden können.
"Nicht mehr zu ertragen"
Zu viele Versäumnisse, zu viele Fehleinschätzungen: Wieler gibt den Politikern die Schuld an der Entwicklung. Denn Konzepte und Rezepte zur Bekämpfung der Pandemie gebe es doch: "Wir müssen nicht ständig etwas Neues erfinden" So befürchtet er das Schlimmste: "Wir laufen momentan in eine ernste Notlage. Wir werden wirklich ein sehr schlimmes Weihnachtsfest haben, wenn wir jetzt nicht gegensteuern".
Und dann verliert Wieler, an sich ein eher zurückhaltender Zeitgenosse, die Fassung: "Das ist 'ne klare Sprache, aber ich kann nach 21 Monaten es auch schlichtweg nicht mehr ertragen, dass es nicht vielleicht erkannt wird, was ich unter anderen sage und auch viele andere Kolleginnen und Kollegen."
"Passiv abwarten" statt aktiv angreifen
"Jeder Tag kostet Menschenleben"
Viele andere Kolleginnen und Kollegen: Damit meint der RKI-Chef auch die 35 Wissenschaftler und Mediziner, die Anfang der Woche Alarm geschlagen haben - diesmal per Brief. Die Tonlage auch hier: verärgert bis fassungslos. Die Regierungen im Bund und den Ländern würden "passiv abwarten", statt die Empfehlungen der Wissenschaftler umzusetzen. Die Folge: "Jeder Tag des Abwartens kostet Menschenleben" - ein dringender Appell an die verantwortlichen Politiker.
Die Politiker drehen den Spieß um
Und die Reaktion? Ist eher verhalten, wie in den Monaten zuvor. Da gab sich CSU-Ministerpräsident Markus Söder in der Maischberger-Talkshow überrascht - schließlich habe der Mediziner Alexander Kekulé gesagt, man müsse sich keine Sorgen machen. Oder vermeintlich offen für alles wie CDU-Politiker Peter Altmaier, der von Hallek Vorschläge zur Senkung der Inzidenzen haben wollte - die es schon lange gibt.
Der Ton wird immer schärfer
Ein Denkmuster, in das die Aussage von NRW-Familienminister Joachim Stamp zu passen scheint: "Ich verstehe auch nicht, warum man es zugelassen hat, dass auf Intensiv so viele Plätze weggefallen sind." Auf Twitter gab es viele empörte Reaktionen - und sie fielen noch schärfer aus, als er einem Kontrahenten sagte, er solle "einfach Klappe halten". Da schaltete sich sogar Christian Drosten ein: "Mit dieser Tonalität wird eine Grenze überschritten, nicht nur im Dialog mit Wissenschaft und Krankenversorgung." Stamp reagierte:
Länder könnten selbstständig agieren
Immerhin: Die Wissenschaftler haben wieder Vorschläge auf den Tisch gelegt, wie die Pandemie eingedämmt werden könnte - Absage von Großveranstaltungen, Schließung von Clubs und Bars, konsequente Einhaltung von 2G-Regeln und vor allem: Impfen. Das alles kommt im neuen Infektionsschutzgesetz nicht vor, aber die Landesregierungen könnten es umsetzen - sozusagen auf eigene Kappe. Ob sie es wollen, wird sich zeigen.