Rund drei Millionen Menschen in Deutschland haben familiäre Wurzeln in der Türkei und beobachten meist besonders genau, was sich dort gerade abspielt. Aber auch für Menschen ohne türkische Wurzeln ist die Türkei ein Land, das immer wieder gern besucht wird. Angesichts der aktuellen Ereignisse stellen sich viele Fragen über eine mögliche Reise in die Türkei in der kommenden Zeit.
Denn die türkische Polizei geht mit Gewalt gegen die Protestierenden vor, die derzeit immer wieder auf die Straßen des Landes gehen, um gegen die Verhaftung des oppositionellen Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu zu demonstrieren. Dabei kommen Gummigeschosse und Tränengas genauso zum Einsatz wie Schlagstöcke und Wasserwerfer. Laut Regierungsangaben wurden seit Beginn der Proteste rund 2.000 Menschen festgenommen, darunter mehrere Journalisten.
Wo in der Türkei sollte man derzeit vorsichtig sein?
Das Auswärtige Amt hat nach den ersten Großdemos gegen Präsident Erdoğan seine Hinweise für Reisende in die Türkei aktualisiert. Im Zusammenhang mit den "politischen Protestaktionen und Versammlungsverboten" komme es im Land zu Absperrungen von Straßen und U-Bahn-Stationen und somit zu Einschränkungen im öffentlichen Nahverkehr. Erwähnt werden dabei Ankara, Istanbul und Izmir. Aber auch in anderen Städten könnte es zu Protesten kommen.
Unabhängig von der aktuellen Situation, die nach der Inhaftierung des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu entstanden ist, warnt das Auswärtige Amt davor, in die türkischen Regionen zu reisen, die an den Irak, den Iran und Syrien grenzen.
Was wird Reisenden empfohlen?
Es wird geraten, sich über die Medien tagesaktuell über die Lage und über mögliche Einschränkungen zu informieren. Zudem sollten Demonstrationen und größere Menschenansammlungen gemieden werden. Auch in deren Umfeld wird vom Auswärtigen Amt geraten, "äußerst vorsichtig" zu sein. Ein Hinweis, der für Touristen genauso gilt wie für Geschäftsleute oder Türkischstämmige auf Verwandtenbesuch.
Gibt es Berufs- oder Personengruppen, für die eine Einreise schwerer oder gefährlicher sein kann?
Journalisten, und vor allem solche, die über Terrorismus, die kurdische Frage oder generell kritisch über Präsident Erdoğan und seine Regierung berichtet haben, müssen in der Türkei mit Repressalien, Schikanen und im schlimmsten Fall Festnahmen und Prozessen rechnen. Auch Berichte über die Proteste können Folgen haben. So kamen mehrere Journalisten in Untersuchungshaft, die die Demos fotografiert, dokumentiert oder in anderer Form darüber berichtet hatten.
Der Terrorismusbegriff in der Türkei ist weiter gefasst als in Deutschland. So werden positive Äußerungen gegenüber kurdischen Anliegen schnell als PKK-Propanda bewertet und entsprechend streng verfolgt. Ähnliches gilt für Anhänger der Gülen-Bewegung. Aber auch regierungskritische Äußerungen können zu Festnahmen, Strafverfolgungen und Ausreisesperren führen. Das Erdoğan-Regime hat dabei auch die sozialen Medien im Blick. Unter Umständen reicht schon ein Teilen oder "Liken" von Posts, um in Schwierigkeiten zu geraten.
Die türkische Regierung hat laut Auswärtigem Amt auch die Aktivitäten in Deutschland im Blick. So kann die Teilnahme an einer Demonstration in Deutschland genauso für eine Strafverfolgung durch die türkischen Behörden sorgen wie die Mitgliedschaft in Vereinen, die in Deutschland legal sind. Auch die Unterzeichnung von Petitionen kann dafür sorgen, dass man bei der Einreise oder beim Aufenthalt in der Türkei ins Visier der Behörden gerät. Diese können auch länger zurückliegen. So erwähnt das Auswärtige Amt eine Petition, die 2014 an die Bundesregierung gerichtet wurde und unter dem Titel "Initiative für ein unabhängiges Kurdistan" auf die Situation der Kurden im Irak Bezug nahm.
Was erwarten Experten für die kommende Zeit?
Tuncay Özdamar. Leiter der türkischen Redaktion bei WDR, berichtet von vermehrten Sorgen der Menschen in der Türkei über die Zukunft. "Wohin geht die Türkei, wohin führt dieser Weg" sei eine Frage, die viele umtreibe. Vor allem junge Menschen protestierten, weil sie eine andere Vorstellung von der Türkei hätten als Erdoğan. "Sie wollen keine russischen Verhältnisse, in denen Oppositionspolitiker einfach verhaftet werden."
Wie es nach der jüngsten Eskalation weitergeht? Ob die aktuelle Situation einen Wendepunkt darstellt? Das sei schwer vorauszusehen. "Es kann in beide Richtungen gehen", glaubt Özdamar. So sei es zwar vorstellbar, dass die Demonstationen länger anhielten und Wirkung zeigten. "Die jungen Leute geben nicht auf, sie machen Druck auf die Regierung, und Erdoğan lenkt schließlich ein." Ein Szenario, das Özdamar aber als nicht sehr wahscheinlich bezeichnet. Die andere Möglichkeit könnte wohl eher Wirklichkeit werden: "Dass Erdoğan immer mehr zum Autokraten wird, der die Opposition unterdrückt und sich das Land langsam von der Demokratie verabschiedet."
Der Politologe Salim Çevik sieht einen Wendepunkt in der Türkei erreicht. Er sieht Erdoğans Autoritarismus in einer "neuen Phase" und an einem "Point of no return". Die letzten Wege zu einem demokratischen Machtwechsel durch Wahlen würden durch ihn "aktiv demontiert". Eine Freilassung İmamoğlus und damit ein Eingehen auf die Forderungen der Protestierenden würde aus Erdoğans als Zeichen von Schwäche gewertet werden und womöglich weiteren Widerstand nach sich ziehen.
Was hat das Pokémon Pikachu mit den Protesten in der Türkei zu tun?
Bei einer Demonstration, die in der vergangenen Woche offenbar in Antalya stattfand, war ein Demonstrant zu sehen, der ein aufblasbares Pikachu-Kostüm trug. Pikachu ist ein Pokémon und seit den Neunziger Jahren vor allem bei jungen Menschen beliebt.
Regierungsnahe Medien versuchten daraufhin, das Pikachu-Kostüm als Teil einer gezielten Kampagne der Opposition darzustellen. Im Sender CNN Türk wurde Protestierenden vorgeworfen, das süße Wesen als Mittel "psychologischer Kriegsführung" einzusetzen. Die Opposition wolle den Protest so sympathischer erscheinen lassen und mehr Menschen auf die Straße bringen.
Zwar gilt für viele Demonstrierende das Pokémon seither als Symbol der Proteste. Aber es gibt auch Kritik. So beklagten Nutzer im Internet, der Protest werde so verharmlost und als Spaßveranstaltung dargestellt, obwohl es Hunderte Festnahmen und Gewalt gebe.
Unsere Quellen:
- Nachrichtenagenturen dpa. AP
- Auswärtiges Amt: Reisehinweise zur Türkei
- Arab Center Washington vom 29.02.2025
Über dieses Thema berichten wir heute auch im WDR Fernsehen um 18.45 Uhr in der "Aktuellen Stunde".