Nach einer hitzigen Diskussion, unterbrochen von vielen Zwischenrufen, vor allem von CDU und Linken, hat der Bundestag heute die heftig umstrittene Wahlrechtsreform beschlossen. Heißt: Der Bundestag wird kleiner - auf Kosten der direkt gewählten Abgeordneten.
Derzeit ist der Bundestag mit 736 Abgeordneten so groß wie noch nie, wegen zahlreicher Überhang- und Ausgleichsmandate. Mit der nun beschlossenen Wahlrechtsreform sollen dem Parlament künftig nur noch 630 Abgeordnete angehören.
Was sieht die Wahlrechtsreform der Ampel-Regierung genau vor?
Die Zweitstimme, mit der sich Wählerinnen und Wähler für eine Partei entscheiden, soll künftig allein über die Verteilung der Sitze im Bundestag entscheiden. Bisher galt: Wer in seinem Wahlkreis per Direktmandat (Erststimme) die meisten Stimmen erhält, zieht in den Bundestag ein, garantiert. Das ändert sich jetzt. Erhält eine Partei mit ihren Zweitstimmen 100 Sitze im Bundestag, dann bleiben es 100 Sitze - auch wenn sie 120 Direktmandate gewinnen sollte. Das heißt: Die 20 direkt gewählten Kandidaten mit dem schlechtesten Ergebnis gehen dann leer aus.
Die Erststimme fällt aber trotzdem nicht weg. Direktkandidaten würde es auch weiterhin geben. Allerdings müsse man dann für ein Mandat in einem Wahlkreis mehr Stimmen als alle anderen Kandidaten haben, sagte Rechtswissenschaftlerin Sophie Schönberger von der Uni Düsseldorf dem WDR bei der ersten Vorstellung der Reform. Zudem müsse der Einzug des Direktkandidaten oder der Direktkandidatin ins Parlament auch noch vom Zweitstimmen-Ergebnis gedeckt sein.
Die Folge: Direktkandidaten, die ihrem Wahlkreis zuletzt mit nur etwa 20 oder 25 Prozent gewonnen haben, würden künftig voraussichtlich nicht mehr in den Bundestag einziehen, so die Professorin. Ihr Wahlergebnis müsste sicherlich höher sein.
Schönberger berät den Bundestag in der Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts und wurde als Sachverständige von der SPD nominiert.
Kritik von Union und Linken
Die Union und die Linkspartei sehen sich durch die Reform benachteiligt. Sie kündigten jeweils eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht an. Dort will Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) die Wahlrechtsreform per Normenkontrollklage zu Fall bringen. Bei einer Normenkontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit der neuen gesetzlichen Regelung mit dem Grundgesetz. Einen entsprechenden Vorschlag werde er seiner Fraktion unterbreiten, sagte Merz am Freitag nach der Abstimmung im Bundestag. Über das erforderliche Viertel der Stimmen im Bundestag verfüge seine Fraktion.
Politiker der Opposition warfen den Ampel-Fraktionen in der abschließenden Debatte vor, sie hätten sich ein Wahlrecht zum eigenen Machterhalt maßgeschneidert. "Diese Wahlrechtsmanipulation darf keine Anwendung bei einer Bundestagswahl finden", sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Deshalb werde auch der Freistaat Bayern eine Klage beim Bundesverfassungsgericht einreichen. "Wir hoffen sehr, dass das Verfassungsgericht in den nächsten Monaten, das heißt vor der nächsten Bundestagswahl, eine Entscheidung trifft."
Auch der per Direktmandat in den Bundestag gewählte CSU-Abgeordnete Wolfgang Stefinger ist der Meinung, dass seine Partei durch die Reform benachteiligt wird. Es könne passieren, "dass die CSU vielleicht, wenn man das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler bekommt, zwar eigentlich die Wahlkreise in Bayern gewinnt, direkt, aber trotzdem kein einziger Abgeordneter im Deutschen Bundestag ist", sagte er am Freitag vor der Abstimmung im WDR5-Morgenecho.
Die Linke hat mit einem anderen Punkt der Reform ein Problem: dem Streichen der sogenannten Grundmandatsklausel. Diese hat für die Partei eine existenzielle Bedeutung, denn ohne sie wäre die Linke heute nicht im Bundestag. Die Klausel sorgt dafür, dass auch Parteien ins Parlament einziehen können, die weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten. Sie müssen dafür drei Direktmandate über die Erststimmen gewinnen.
Das schaffte die Linke 2021 und zog mit insgesamt 39 Abgeordneten ins Parlament ein, obwohl sie nur 4,9 Prozent der Zweitstimmen erreicht hatte. Fraktionsgeschäftsführer Korte sieht nun in der Abschaffung der Klausel einen gezielten Angriff auf seine Fraktion.
Warum gibt es die Reformpläne?
Die Reform ist nötig, weil die vielen zusätzlichen Abgeordneten aufgrund von Überhang- und Ausgleichsmandaten hohe Kosten verursachen. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei über die Erststimmen (Direktkandidaten-Stimme) mehr Mandate erringt, als ihr nach dem Ergebnis der Zweitstimmen (Parteien-Stimme) zustehen.
Diese zusätzlichen Mandate durfte die Partei bislang behalten. Die anderen Parteien erhalten dafür Ausgleichsmandate. So ist das Parlament derzeit größer, als es eigentlich sein sollte. Und nicht zuletzt fehlt in den Bundestagsgebäuden schlicht der Platz für so viele Abgeordnete.
Mit der Reform setze die Regierungskoalition "den Grundcharakter unseres Wahlsystems, das Verhältniswahlrecht, konsequent um", sagte Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann im Vorfeld der Abstimmung.
Ist die Reform gerecht?
Das ist umstritten. Die CDU, vor allem aber die CSU, ist gegen die Pläne der Ampel-Koalition. Der Grund: Die bayerische Unionspartei profitiert von der jetzigen Regelung mit den Überhangmandaten am meisten - sie hat besonders viele gewählte Direktkandidaten. Sie hält die Reform für verfassungsrechtlich problematisch.
Einerseits werde das Demokratieprinzip verletzt, weil etwa Wählerinnen und Wähler in Wahlkreisen mit knappen Ergebnissen beim nächsten Mal womöglich nicht mehr zur Wahl gingen in der Annahme, ihre Stimme zähle nicht, so CSU-Wahlrechtsexperte Alexander Hoffmann. Andererseits werde das Prinzip verletzt, dass ein Ergebnis in einem Wahlkreis nicht von jenem in einem anderen Wahlkreis abhängen sollte.
Sophie Schönberger von der Uni Düsseldorf sieht das anders: "Das ist verfassungsrechtlich erlaubt", ist sie sich sicher.
Die Lösung der Ampel-Koalition sei fair, weil jede Partei genau so viele Mandate erhalte, wie ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis zustehen. Alle Parteien würden prozentual gleich viel gewinnen oder verlieren, so die Rechtswissenschaftlerin, die zugleich Sachverständige in der Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts im Bundestag ist.
Wird der Reformbeschluss tatsächlich umgesetzt?
Der Bundesrat muss sich auch noch mit dem Gesetzentwurf befassen, kann ihn aber nicht aufhalten. Abzuwarten bleibt, wie die Klagen der Union und der Linken vor dem Bundesverfassungsgericht ausgehen.
Welche Direktkandidaten in NRW wurden mit welchem Ergebnis gewählt?
In NRW gab es 2021 zur Bundestagswahl 64 Wahlkreise und somit 64 Direktkandidatinnen und -kandidaten, die in den Bundestag einzogen. Viele von ihnen hätten es allerdings auch ohne Überhangmandate geschafft, weil sie über die Liste für die Zweitstimmen eingezogen wären.
Wer wurde eigentlich in welchem Wahlkreis gewählt? Und mit welchem Ergebnis? Diese NRW-Karte gibt den Überblick:
Weitere Informationen zu den Ergebnissen der NRW-Wahlkreise gibt es über diese Suchfunktion: