Die wohl umstrittenste WM aller Zeiten läuft - und viele schauen tatsächlich weg. Die TV-Quoten der Spiele in Katar liegen weit hinter denen der WM 2018 zurück. Am Dienstagabend verlor Weltmeister Frankreich das Quoten-Duell gegen die ARD-Serie "Die Kanzlei". Frankreich gegen Australien wollten im Schnitt nur 4,96 Millionen sehen, "Die Kanzlei" schauten sich 5,05 Millionen Menschen an.
Bei der WM 2018 hatte das reichweitenschwächste Spiel zur Primetime knapp acht Millionen Zuschauer. Und das war im Sommer, wo traditionell weniger Menschen vor dem Fernseher sitzen als jetzt im dunklen November.
Philosoph Eilenberger: "Kritik wirkt"
Nun aber startet die DFB-Elf ins Turnier. Schauen die Deutschen auch jetzt weg, wenn die Elf von Hansi Flick auf Japan trifft? Oder machen wir eine Pause vom Boykott?
Wolfram Eilenberger, Schriftsteller und Philosoph, aber auch im Besitz einer DFB-Trainerlizenz, spricht im WDR von "Protzkonsum, ökologischen Desastern und Menschenrechtsverletzungen" in Katar.
Er sieht aber auch, dass die Kritik wirkt. "Ich glaube nicht, dass die FIFA oder eine andere globale Organisation nochmal eine so absurde Entscheidung treffen wird. Da passiert gerade auch sehr viel", sagt er und gibt zu, selbst "mit schlechtem Gewissen Fußball zu schauen".
Sylvia Schenk: "Völlig verkorkste Diskussion"
Von einer "völlig verkorksten Diskussion, die niemandem hilft", spricht die Menschenrechtsanwältin Sylvia Schenk. In der Debatte um die "One-Love"-Armbinde hätten sich die nationalen Verbände schon "vor Wochen" mit der FIFA zusammensetzen können. Nun sei die Situation festgefahren.
Die Ankündigung der FIFA, die Spieler, die die Armbinde tragen, mit einer Gelben Karte zu bestrafen, produzierte einen riesigen Imageschaden für den Fußballweltverband. Aber ein Boykott?
Nein, sagt Schenk, die auch Sportexpertin von Transparency International ist. Sie nennt einen Boykott "kontraproduktiv" - denn durch die hohe internationale Aufmerksamkeit habe sich in Katar vieles zum Guten gewendet.
Fans haben schon lange vor der WM Stellung bezogen
Das Problem des WM-Boykotts auf die Fans abzuwälzen, findet auch Eilenberger problematisch: "Die Verbände hätten etwas tun können gegen die WM-Vergabe, aber dieser Zeitraum liegt acht, neun Jahre zurück."
Fans rufen im Stadion zum WM-Boykott auf
Die Fans tragen keine Verantwortung für die WM-Vergabe nach Katar. Sie haben ohnehin schon mehrere klare Statements abgegeben. In einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der ARD-Sportschau und des Morgenmagazins von ARD und ZDF gaben 56 Prozent der Befragten an, das Turnier ignorieren zu wollen. Und in vielen Bundesligastadien haben Fangruppen mit Sprechchören und Transparenten klar Stellung gegen Katar bezogen.
Dennoch ist die TV-Quote ein entscheidender Faktor für die Höhe der Fernsehgelder, die die Sender an die FIFA überweisen. So muss am Ende jeder selbst entscheiden, ob heute um 14 Uhr der Fernseher angeschaltet wird oder vielleicht ein 90-minütiger Spaziergang durch den Wald auf dem Programm steht.