Chaos in Wohngeldstellen: Wartezeiten länger denn je
Stand: 30.03.2023, 14:59 Uhr
Durch ein neues Wohngeld-Gesetz steht viel mehr Menschen Geld zu – in den Behörden ist aber vielerorts Chaos. Altenpflegerin Tanja Uhlendorf wartet seit Monaten. Eine WDR-Umfrage zeigt: Sie ist kein Einzelfall.
Von Anastasiya Polubotko, Elena Riedlinger, Nandor Hulverscheidt, Martina Koch
Die Briefumschläge mit Geld sind schon alle leer. Für jede Woche legt Tanja Uhlendorf 150 Euro hinein. Das Geld muss für sie, ihren Mann und ihre Tochter reichen. Sie kauft vor allem Lebensmittel damit.
Doch jetzt, zum Monatsende, ist kein Geld mehr übrig. Um nochmal einkaufen gehen zu können, muss sie sich Geld von ihren Eltern leihen, wie so oft am Ende des Monats.
Drei Mal mehr Berechtigte
Dabei hatte sie Anfang des Jahres große Hoffnung, dass sich ihre Situation bessern würde. Sie sollte Anspruch haben auf Wohngeld, also einen Zuschuss zu den Wohnkosten, was ihre finanzielle Lage deutlich entspannen würde. Im Januar ist das "Wohngeld Plus" in Kraft getreten.
Zum einen wurde damit das Wohngeld erhöht - von durchschnittlich 180 auf 370 Euro im Monat. Zum anderen sind nun fast drei Mal so viele Menschen berechtigt: Waren es im letzten Jahr noch 160.000 in NRW, können seit Januar 2023 nun 480.000 Menschen einen Zuschuss zu ihren Wohnkosten erhalten. Eine von ihnen ist Tanja Uhlendorf.
Die vielen Anträge auf Wohngeld führen jedoch teils zu einer massiven Überlastung der Ämter. So gab es zum Beispiel in Dorsten im Dezember noch 50 offene Anträge, am 1. März waren es schon mehr als 570. Das war eine Antwort auf eine nicht-repräsentative WDR-Befragung aller NRW-Wohngeldämter im Dezember und März. Bis zum Stichtag am 1. März haben 254 von 396 an der Befragung teilgenommen.
In Bochum hat sich die Zahl der offenen Anträge von 2.000 auf schätzungsweise 4.000 verdoppelt - von einer ähnlichen Entwicklung berichten dem WDR gegenüber noch 107 weitere Kommunen. Negativer Spitzenreiter unter den Befragten ist dabei die Großstadt Köln mit mehr als 10.000 offenen Anträgen.
Auch Tanja ist nun eine von den "neuen" Wohngeldberechtigten, deren Antrag sich nun als "offen" im System befindet. Im letzten Jahr sei sie knapp 20 Euro über der Berechtigungsgrenze gewesen, erzählt sie. Die Altenpflegerin arbeitet eigentlich aus gesundheitlichen Gründen in Teilzeit 30 Stunden pro Woche. In der Realität sind es oft 40 oder mehr.
Tanja Uhlendorf wartet seit Anfang Januar auf das Wohngeld.
Jede mögliche zusätzliche Schicht nimmt sie an, um genug Geld für die dreiköpfige Familie zu haben, die sie als Alleinverdienerin finanziell über die Runden bringen muss. "Ich habe nicht die Möglichkeit, mir einen Kredit zu nehmen oder noch andere Leute außer meine Eltern noch um Geld zu fragen. Und das ist mir auch peinlich."
Nur ihre Tochter soll möglichst wenig dadurch leiden. Tanja kämpft, um ihr auch die Klassenfahrt zu ermöglichen, und steckt dafür selbst, wo es geht, zurück. Früher war das nicht so oft nötig. Heute zahlt sie aber etwa 150 Euro mehr für ihre Wohnung als noch vor zwei Jahren, und auch für den Lebensmitteleinkauf muss sie heute tiefer ins Portemonnaie greifen, während sich ihr Gehalt nicht verändert hat. Laut Wohngeldrechner würde sie mehr als 300 Euro erhalten, es wäre eine spürbare Entlastung für die Familie.
Problem der lückenhaften Unterlagen
Dabei hat Tanja direkt am 2. Januar vor Ort den Wohngeldantrag mit allen damals nötigen Unterlagen eingereicht. Und das war keine schlechte Entscheidung: Es ist zwar möglich, Anträge auch online einzureichen, die nötigen Unterlagen - zum Einkommen und zur Wohnsituation - können dort jedoch nicht hochgeladen werden. Das bedeutet für die Ämter zusätzliche Nachfragen – und damit mehr Aufwand und Zeit für die Bearbeitung.
Von den 254 Kommunen, die auf die WDR-Umfrage geantwortet haben, kam immer wieder der Hinweis, dass ein großer Teil der Anträge unvollständig eingereicht wird. So hieß es beispielsweise aus Velbert, dass 95 Prozent der Neu- und Folgeanträge unvollständig seien. In Hiddenhausen kämen 72 Prozent der Anträge ohne Unterlagen an.
Wartezeiten variieren stark
Die Folgen spüren Betroffene wie Tanja täglich. Sie hat knapp drei Wochen nach ihrem Antrag, also Ende Januar, einen Brief von der Wohngeldstelle bekommen. Darin die Bitte, ihre Abrechnung für den Januar nachzureichen, doch auf diese Abrechnung musste sie wieder einige Wochen warten. Seitdem versucht sie immer wieder, schriftlich und telefonisch, Infos zu ihrem Antrag zu erhalten oder einen Termin für die persönliche Vorsprache zu vereinbaren - erfolglos. Für sie doppelt bitter, erzählt die Gelsenkirchenerin:
Dass Tanja so lange warten muss, ist derzeit aber nicht ungewöhnlich. Knapp ein Drittel der befragten Kommunen (89 von 253) gibt eine durchschnittliche Wartezeit zwischen einem und zwei Monaten an.
In manchen Kommunen kann es aber auch fünf Monate oder länger dauern, so zum Beispiel in Bochum, Castrop-Rauxel, Leverkusen und Remscheid.
Vorschüsse möglich, aber umstritten
Das Chaos in den Wohnämtern ist nicht überraschend. Schon Ende des vergangenen Jahres mussten Berechtigte bei jeder zehnten Kommune drei Monate oder länger warten. Neben den Wohngeldanträgen hatten die Behörden auch mit vielen krankheitsbedingten Ausfällen und den beiden einmaligen Heizkostenzuschüssen zu kämpfen.
Dass die Verdreifachung der berechtigten Menschen vielerorts zu Überlastungen führen kann, kam mit Ansage.
Auf Nachfrage des WDR berichteten bereits im Dezember mehrere Kommunen, dass sie versucht haben, sich darauf vorzubereiten - manchmal jedoch erfolglos. Die Zeit dafür war schließlich knapp: Im November haben Bundestag und Bundesrat dem Gesetzentwurf über "Wohngeld Plus" zugestimmt, knapp einen Monat vor dem Start. Aus der Gemeinde Odenthal hieß es beispielsweise, dass man nicht mehr rechtzeitig Personal finden könne. "Neues Personal würde zur Einarbeitung aktuell mehr behindern als helfen."
Um diejenigen, die aufs Wohngeld angewiesen sind, zu entlasten, wurde rechtlich die Möglichkeit geschaffen, Vorschüsse zu zahlen. Die Idee: Wer wegen eines zu niedrigen Einkommens mit hoher Wahrscheinlichkeit berechtigt ist, kann einen "Kurzbescheid" und damit einen Vorschuss bekommen, um die Zeit bis zur endgültigen Bearbeitung des Antrags zu überbrücken.
Bei der Befragung zeigte sich allerdings ein sehr gemischtes Bild: In manchen Ämtern gab es Vorauszahlungen, in manchen nicht. Schließlich bedeutet ein Kurzbescheid, dass jeder Antrag mehrfach angefasst werden muss – und damit höhere Wartezeiten für alle.
Jeden Morgen das Konto checken
Tanja Uhlendorf hat keinen Vorschuss erhalten. "Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, ist das Erste, was ich mache, das Konto checken", sagt sie. "Das mache ich jetzt seit Monaten so und bin dann immer enttäuscht." Ihre Schwester hatte den Antrag zwei Wochen nach ihr abgegeben - und schon einen positiven Bescheid bekommen.
Irgendwann wird es auch bei Tanja so weit sein und dann kann sie zumindest das, was sie von ihren Eltern geliehen hat, wieder zurückzahlen, weil das Wohngeld auch rückwirkend zum Zeitpunkt des Antrags gezahlt wird.
Hinweis der Redaktion: Nach der Berichterstattung des WDR wurde Tanja Uhlendorfs Wohngeld-Antrag bewilligt - sie erhält monatlich 180 Euro Unterstützung.
Über dieses Thema berichtet der WDR am 30.03.2023 unter anderem auch im WDR 5 Morgenecho und der Aktuellen Stunde im WDR Fernsehen.