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Das Grundgesetz geht alle an! - Ralf König über Artikel 11

WDR 3 28.07.2017 01:30 Min. UT Verfügbar bis 28.07.2180 WDR 3

Ralf König: Artikel 11 - Freizügigkeit

Stand: 13.05.2019, 12:00 Uhr

Dem Comic-Zeichner Ralf König kommt beim Begriff Freizügigkeit nicht nur das Dekolleté von Angela Merkel in den Sinn, sondern auch Pläne von Peter Gauweiler. Der wollte in den 1980er-Jahren das Recht auf die freie Wahl des Wohnortes für HIV-Kranke einschränken - wegen Seuchengefahr.

Ralf König über Artikel 11 - Freizügigkeit

WDR 3 Kultur am Mittag 28.07.2017 06:56 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 WDR 3


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Unser Grundgesetz ist so gut wie in Stein gemeißelt, und das ist richtig so. Jede Änderung des Wortlauts bedarf eines Bundesgesetzes mit den Stimmen von zwei Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages und zwei Drittel der Stimmen des Bundesrates. Das klingt nach gehörigem Aufwand und Diskussionsbedarf, und dem unterzieht man sich in Berlin wohlweislich nur in äußersten Notfällen. Und da ist natürlich der Respekt vor den Vätern und Müttern der Verfassung, die die Grundlagen unseres freiheitlichen Miteinanders so wohlformuliert zu Papier gebracht haben, den Schrecken der Unfreiheit und Willkür noch in den Knochen. Ähnlich wie bei eher unseligen Heiligen Schriften wird ungern am Wortlaut nachjustiert, und so klingt die eine oder andere Begrifflichkeit für heutige Ohren etwas antiquiert oder gar missverständlich. Wenn man Wortwahl denn unbedingt auf den Prüfstand stellen will, bitte sehr.

Die Einschränkung der Freizügigkeit

Artikel 11 setzt im Absatz 1 fest, dass alle Deutschen im ganzen Bundesgebiet "Freizügigkeit" genießen. Dies meint, dass alle Deutschen innerhalb Deutschlands frei wählen dürfen, wo sie leben und sich aufhalten wollen. Da denkt man, ist doch eigentlich selbstverständlich, die Probleme fangen ja eigentlich erst an, wenn man als Nichtdeutscher von außen über die Grenze kommt und mal eben in Schleswig-Holstein oder Bayern sein Zelt aufschlagen will. Allerdings kann auch manch Deutscher, der zum Beispiel im Schwabenland mit dem schwäbischen Dialekt nicht klarkommt, nicht mal eben ins Ruhrgebiet ziehen, wenn ihm die dazu nötigen Mittel fehlen. Das stellt Absatz 2 klar: "Dieses Recht darf nur (...) für die Fälle eingeschränkt werden, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden." Wer also kein Geld hat für den Umzug und keine Aussicht auf einen gut bezahlten Job in Dortmund, muss halt leider im Schwabenland bleiben und kann nicht davon ausgehen, dass ihn die Dortmunder schon irgendwie durchfüttern.

"Freizügigkeit" hat also mit "frei ziehen" zu tun. Irgendwie dachte ich bei dem Begriff eher an Delikates. Wir erinnern uns an die Bilder von Angela Merkels Dekolleté beim Bayreuther Wagnerhören. Da wurde in die Hand gehüstelt und süffisant gekichert, die Garderobenwahl der Kanzlerin sei aber reichlich "freizügig". Sehr zu Unrecht, wie ich fand, wer hat, darf auch zeigen. Ich fand das sympathisch. Die Gründer unserer Verfassung aber haben nicht über Modefragen befunden. Der Rock darf so kurz sein, wie er will, jede Deutsche und jeder Deutsche darf damit frei über die Fußgängerzone ziehen. Darum geht es also nicht in Artikel 11.

Freizügigkeit des Grundgesetzes genießen – auch bei der Ehe für alle

Dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes noch wenig Ahnung von der Vielfalt menschlicher Liebesbedürftigkeiten hatten und die Ehe selbstverständlich als ein Ding betrachteten, das - womöglich gottgewollt - ausschließlich Mann und Frau beträfe, das kann man ihnen kaum vorwerfen. Schwule und Lesben huschten zu dieser Zeit verängstigt durch die dunkleren Ecken am Rande der Gesellschaft und wurden somit mit ihren Bedürfnissen und Träumen kaum wahrgenommen. Man befand es nicht nur für nicht nötig, ausdrücklich zu erwähnen, dass gleichgeschlechtliches Heiraten nicht in Frage kommt, dieser Gedanke kam gar nicht erst auf! Da wir heute zum Glück gesellschaftlich weiter sind, ist auch in diesem Punkt "Freizügigkeit" zu genießen. Auch wenn es eher um was anderes ging, nämlich den Standort, den Ort, an dem man leben will, in Deutschland, als Deutscher.

Gauweilers Pläne zum Umgang mit HIV

Diese Freizügigkeit kann uns im Absatz 2 aber auch verwehrt werden durch einen ganzen Katalog besonderer Fälle. Nämlich durch, ich zitiere: "Die Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung und um strafbaren Handlungen vorzubeugen."

"Zur Bekämpfung von Seuchengefahr", das kommt mir noch bekannt vor. Der damalige CSU-Oberbayer Peter Gauweiler plante Mitte der 80er-Jahre Internierungslager, in die Menschen, die sich mit dem HI-Virus infiziert hatten, gesammelt und registriert werden sollten. Nun ist HIV nicht vergleichbar mit der Vogelgrippe, das Aids-Virus kommt einem nicht durch die Luft zugeflogen und überträgt sich auch nicht durch Händeschütteln. Man wusste es damals nicht, die Übertragungswege waren lange unklar, und beinahe hätten wir den Fall erlebt, die Stigmatisierung, das Aussortieren einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Es ist nicht passiert, Rita Süssmuth sei Dank!

Verwahrlosung der Jugend durch "Freizügigkeit"?

Was die Wahl des Wohnorts allerdings gegen die "Verwahrlosung der Jugend" auszurichten vermag, will mir nicht ganz einleuchten. Was verstanden die Verfassungsbegründer unter "Verwahrlosung"? Ich verwahrlose auch von Zeit zu Zeit, zum Beispiel in der Küche, wenn ich zu faul bin, die Spülmaschine auszuräumen, aber da ich nicht mehr jugendlich bin, darf ich das. Ich bin sogar alt genug, mich daran zu erinnern, wie mein Vater seinerzeit auf die von meinen älteren Schwestern so angehimmelten Beatles reagierte, wie verachtend er deren "Yeah Yeah Yeah" nachäffte, jene berühmte Textzeile, die auf "She loves you" folgte. Und alles nur noch auf Englisch, wo bleibt da das deutsche Liedgut? Rockmusik war vielen ein Zeichen der Verwahrlosung, die ganzen 70er-Jahre ein Zusammenbruch althergebrachter Moral und Sitte!

Auch das Internet mit seinen oft zweifelhaften Inhalten haben die Verfassungsgründer sich nicht vorstellen können. Und da nutzt keine Einschränkung des Wohnstandorts, der Jugendliche kann freizügig verwahrlosend von Regensburg nach Düsseldorf ziehen und trotzdem nie ein gutes Buch gelesen haben oder denken, alle Musik und jeder Film sei umsonst zu konsumieren. Au weia, hier sitze ich und befinde auch, dass die Jugend abkackt, weil sie als Gesamtheit nur noch mit der Nase am Smartphone klebt, Printerzeugnisse und anspruchsvollere Literatur nicht mehr zu schätzen weiß und sowieso nur noch alles umsonst von irgendwo downloaden will! Wie klingt der Werbeslogan: Hauptsache, Ihr habt Spaß! Da kann man ja auch ins Grübeln kommen.

Begrifflich etwas nachjustieren

Aber auch diese Zeiten wird das Grundgesetz überstehen. Und seine grundsätzliche Gültigkeit behalten, auch wenn draußen alles irgendwie ganz anders wird, als zu erwarten war. Man sollte womöglich hier und da begrifflich etwas nachjustieren, damit es nicht verstaubt wie die Heiligen Schriften. Wenn da ein Mann eine Frau "erkennt" meint es nicht zwingend, dass er weiß: "Ach, das ist doch die Renate!" Wörter und Sprache wandeln sich, aber wie gut, dass es unsere Verfassung gibt und sie – hoffentlich – auch in Zukunft schwer anzutasten ist. Ein Blick über die Grenzen in die Gesetzgebung manch anderer Staaten macht es klar: Freizügigkeit ist ein wichtiges Gut, ob so gemeint oder so!