Hätte Konrad Adenauer sich damals durchgesetzt, dann lägen heute auch Koblenz und Trier in Nordrhein-Westfalen. Und wäre es nach dem Willen der Industrie- und Handelskammer Düsseldorf gegangen, wäre das bevölkerungsreichste deutsche Bundesland Niederrhein-Westfalen getauft worden.
Doch die Vorschläge deutscher Politiker und Behörden interessieren die britische Militärregierung in Westdeutschland nicht. Im Alleingang beschließen die Besatzer 1946, die ehemals preußische nördliche Rheinprovinz mit der Provinz Westfalen zu verschmelzen.
So zumindest lautet seit 75 Jahren der gängige Gründungsmythos Nordrhein-Westfalens. Jüngste Funde von NRW-Historikern im Preußischen Staatsarchiv haben allerdings ergeben: Diese Darstellung muss neu oder zumindest mit einer längeren Vorgeschichte erzählt werden.
US-Hilfe ermöglicht "Operation Marriage"
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 teilen die Siegermächte Deutschland in vier Besatzungszonen. An Rhein und Ruhr ziehen die Briten ein. Sie kontrollieren damit die industrielle Kernregion Deutschlands und den größten Ballungsraum Europas. Über die Zukunft des Ruhrgebiets aber sind sich die Sieger uneins: Frankreich will es von Deutschland abtrennen, um den "alten Erzfeind" zu schwächen. Die Sowjets wiederum fordern eine Beteiligung an der Kontrolle des Ruhrgebiets.
Als die USA zusagen, das Ruhrgebiet mit Lebensmittelimporten zu unterstützen, können die Briten Tatsachen schaffen. Unter dem Codenamen "Operation Marriage" beschließen sie am 17. Juli 1946 in London die Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Mit der alliierten Verordnung Nr. 46 verkünden sie am 23. August 1946 die Gründung des Bindestrich-Landes. Im folgenden Jahr wird auch das kleine Land Lippe auf Betreiben der Briten mit NRW "verheiratet".
Kartenfund elektrisiert Historiker
"Die Entstehung des neuen Landes geschah also ohne Betreiben und Zustimmung verantwortlicher deutscher Stellen", erzählt später Rudolf Amelunxen, den die Briten als ersten Ministerpräsidenten einsetzen.
Um Rat gefragt haben die britischen Militärbehörden aber doch, und zwar Verwaltungsexperten wie Kölns Oberbürgermeister Adenauer, den Oberpräsidenten der Provinz Nordrhein Robert Lehr und Münsters Oberbürgermeister Karl Zuhorn. Sie hatten bereits in der Weimarer Republik Überlegungen zur Neustrukturierung der Region an Rhein und Ruhr angestellt.
Das beweist eine Karte, die Historiker der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen (lzpb) jüngst entdeckt haben. "Sie zeigt ein Gebilde mit Namen Rheinland-Westfalen, das mit zwei marginalen Abweichungen bereits damals das heutige Land NRW darstellt", sagt Teamleiter Dr. Guido Hitze.
NRW-Vorläufer in der Weimarer Zeit
Guido Hitze hat sich intensiv mit Hans Baumann, dem Schöpfer der Karte beschäftigt. Der Wirtschaftsingenieur und Experte für Verkehrs- und Energiefragen hatte schon Anfang der 1920er Jahre vorgeschlagen, das Deutsche Reich auf der Basis von ökonomisch sinnvollen Wirtschaftsprovinzen neu zu ordnen.
Hitze und seine Historikerkollegen arbeiten nun heraus, welche Ideen dieses Plans über welche Personen weitergegeben wurden, um dann 25 Jahre später den britischen Besatzern als Entscheidungsgrundlage zu dienen. Ihre Forschungen sind noch längst nicht abgeschlossen. Sicher aber ist, so Hitze: "Die heutige Form von NRW ist eine direkte Folge wirtschaftspolitischer Überlegungen während der Weimarer Republik. Das ist bisher nur nicht so weitsichtig miteinander in Verbindung gebracht worden."
Autorin des Hörfunkbeitrags: Jana Magdanz
Redaktion: Ronald Feisel
Programmtipps:
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 17. Juli 2021 an die Bildung des Landes NRW. Das "ZeitZeichen" gibt es auch als Podcast.
ZeitZeichen am 18.07.2021: Vor 200 Jahren: Geburtstag der Sängerin und Pianistin Pauline Viardot-García