Wer lügt und wer die Wahrheit spricht, darüber entscheiden Beweise, Zeugen, Leumund und – wenn alles zu keinem klaren Urteil führt – Gottes Allmacht. Denn der Herr beschützt die Gerechten und lässt die Ungerechten fallen. Auf diesem Glauben fußt im Mittelalter als ultima ratio der Wahrheitsfindung das Gottesurteil: Man bringe den Beschuldigten in eine heikle Lage und Gott wird ihm beistehen, wenn er reinen Gewissens ist. Den Bösen aber lässt er ins Verderben stürzen.
Ordale, wie Gottesurteile in der katholischen Kirche heißen, sind aber keine mittelalterliche Erfindung. Rituale, bei denen eine göttliche Macht direkt in das Schicksal eines Menschen eingreift, kennen Historiker aus nahezu allen Kulturen und Epochen. Im frühen Mittelalter, zur Zeit der Merowinger und Karolinger, finden Gottesurteile auch in das Christentum Eingang. Karl der Große untermauert ihre Bedeutung für die Rechtsfindung und führt zahlreiche neue Prüfungsformen ein.
Zweifel an Sinn und Recht
Feuer und Wasser zählen zu den wichtigsten Elementen, die bei einem Ordal befragt werden. Haben die Beschuldigten einen Eid auf ihre Unschuld geleistet, müssen sie zum Beweis über glühende Pflugscharen laufen, ein sprichwörtlich gewordenes "heißes Eisen" anfassen oder einen Ring aus siedendem Wasser herausholen. Heilt die Wunde problemlos, gilt dies als Beweis der Unschuld. Weit verbreitet ist die Kaltwasserprobe, bei der man den Delinquenten in Hockstellung gefesselt in ein Gewässer wirft. Bleibt er an der Oberfläche, so weigert sich das "reine" Wasser, den schuldigen Körper anzunehmen. Geht er unter, ist er unschuldig und wird – wenn er Glück hat – noch lebend wieder heraufgezogen.
Auch bei gerichtlich verfügten Zweikämpfen soll Gott über Schuld und Unschuld urteilen; wer siegt, hat Recht. Beste Chancen davonzukommen bietet dem Reuelosen die Abendmahlsprobe. Spätestens beim Empfang der heiligen Hostie werde des Herrn strafender Blitz auf den Lügner niederfahren, so der Glaube. Im 12. Jahrhundert aber kommen starke Zweifel am Sinn und Recht des Gottesurteils auf, auch innerhalb der Kirche. Abgesehen von der offenbaren Manipulierbarkeit von Ordalen sei dem Menschen nicht erlaubt, Gott ständig zu einem Zeichen zu zwingen, kritisieren bedeutende Kleriker. Der in jener Zeit aufflammende Kampf gegen die ketzerischen Waldenser und Katharer erfordert zudem verlässlichere Methoden, um Häretiker zu entlarven.
Ohne Geständnis kein Urteil
Aber erst mit der Papstwahl von Innozenz III., einem der mächtigsten Männer, die je die Tiara trugen, wendet sich die Kirche endgültig vom Gottesurteil ab. 1215 ruft Innozenz das IV. Laterankonzil aus. Im November treffen etwa 1.500 Kirchenfürsten aus allen Teilen der katholischen Welt in Rom ein. Es ist die bislang größte Versammlung der Kirchengeschichte. Geleitet von Innozenz III., dem überragenden Juristen des Hochmittelalters, ordnet das Konzil in 71 Vorschriften, den Canones, die Führung der Kirche und ihre Position als weltliche Macht neu.
Im 18. Canon unter dem Kapitel "Moral der Kleriker" untersagt das Konzil fortan allen kirchlichen Amtsträgern, in irgendeiner Weise an Gottesurteilen mitzuwirken. Als neues Mittel der Urteilsfindung wählt der Papst ein Verfahren aus dem römischen Recht, die Befragung Verdächtiger durch die päpstliche Inquisition. Nicht mehr das Urteil, sondern das Geständnis ist nun von zentraler Bedeutung. Ohne Geständnis keine Verurteilung. Um es zu erzwingen, werden die Delinquenten auch grausamsten Folterungen unterzogen. Die Hinrichtungen nach erwiesener Schuld überlässt die Inquisition dann der weltlichen Macht. Eingeführt, um eine ungerechte, archaische Wahrheitsfindung zu ersetzen, schickt die Inquisition in den folgenden Jahrhunderten etwa 10.000 Menschen in den Tod.
Stand: 01.11.2015
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