Stichtag
12. August 1970 - Deutsch-Sowjetischer Vertrag unterzeichnet
Neun Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer geht das Tor zum Osten einen Spalt breit auf: Am 12. August 1970 unterzeichnet Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) in Moskau den deutsch-sowjetischen Vertrag. Dieser markiert den Beginn des "Wandels durch Annäherung".
Moskau, 12. August 1970: Der Große Katharinensaal im Kreml ist Schauplatz eines historischen Festaktes. Am selben Ort wurde bereits im August 1939 ein Vertrag besiegelt - der berüchtigte Nichtangriffs-Pakt zwischen Adolf Hitler und Josef Stalin. 31 Jahre später reichen sich erneut Sowjets und Deutsche die Hand. Aber der Anlass ist ein anderer. Es geht um die faktische Anerkennung der territorialen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg. Der sowjetische Ministerpräsident Alexei Kossygin und Außenminister Andrei Gromyko sowie Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und Außenminister Walter Scheel (FDP) unterzeichnen den Deutsch-Sowjetischen Vertrag. Beide Seiten verpflichten sich zum Gewaltverzicht und zur Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen, vor allem der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze und der deutsch-deutschen Grenze.
Die Vorgeschichte: Am 13. August 1961 baut die DDR die Berliner Mauer. Berlins Regierender Bürgermeister Brandt ist wütend: "Eine Regime des Unrechts hat ein neues Unrecht begangen, das größer ist als alles zuvor!" Da weder die Westalliierten noch Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) etwas unternehmen, ist Brandt auf sich allein gestellt. "Und das bedeutete", so Egon Bahr (SPD), damals Brandts Pressesprecher, "dass wir uns nun zu überlegen hatten: Wenn praktisch niemand half, müssen wir, am schwächsten Punkte, versuchen, uns selbst zu helfen, um diese Mauer wenigstens für Stunden durchlässig zu machen."
Bahr: "Wandel durch Annäherung"
Bahr formuliert mit der Losung "Wandel durch Annäherung" die Strategie von Brandts zukünftiger Ostpolitik, die auf Entspannung zielt. Der Status Quo soll anerkannt werden, um ihn verändern zu können. "Wir haben gesagt, dass die Mauer ein Zeichen der Schwäche ist, ein Zeichen der Angst", so Bahr. Die Frage sei gewesen, wie man dem DDR-Regime dessen durchaus berechtigten Sorgen nehmen könne, um eine "Auflockerung" der Mauer zu erreichen. Diese Politik der kleinen Schritte steht allerdings im Widerspruch zur bisherigen Politik des Westens: Druck ausüben und so tun, als ob die DDR gar nicht existiert. "Die Bundesrepublik ist allein befugt, für das deutsche Volk zu sprechen", so Adenauer, der zudem auf den Vorkriegsgrenzen von 1937 besteht.
Brandt und Bahr haben zudem das Problem, dass im Ostblock nichts ohne die Zustimmung der Sowjetunion läuft. "Ebenso musste das deutsch-polnische Verhältnis bereinigt werden", sagt Historiker Heinrich August Winkler. Zudem habe auch das deutsch-tschechoslowakische Verhältnis geklärt werden müssen. Denn damals gilt offiziell noch das Münchner Abkommen von 1938, das Nazi-Deutschland als Rechtfertigung diente, das auf tschechoslowakischem Staatsgebiet liegende sogenannte Sudetenland zu besetzen.
Brandt: "Es wächst zusammen, was zusammengehört"
"Diese Ostverträge waren ein Gesamtkunstwerk", so Historiker Winkler. "Es musste alles sich zusammenfügen, auch in der richtigen Reihenfolge, damit am Ende wirklich Verbesserungen für das geteilte Deutschland herauskamen." Deshalb sei es so wichtig gewesen, zunächst den Moskauer Vertrag abzuschließen, gefolgt vom Warschauer Vertrag im Spätjahr 1970 - nur Stunden nach Brandts Kniefall vor dem Warschauer Ghetto-Ehrenmal. Wenige Wochen später erlaubt die UdSSR direkte Verhandlungen zwischen Ost-Berlin und Bonn. Im September 1971 wird das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin abgeschlossen, 1972 dann der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag und im Dezember 1973 als letzter Ostvertrag der Kontrakt mit Prag, der das Münchner Abkommen für nichtig erklärt.
Der krönende Abschluss sei 1975 die Schlussakte der "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE) in Helsinki gewesen, sagt Historiker Winkler. Wie in den Ostverträgen habe der Westen darin die bestehenden europäischen Grenzen anerkannt und die Ostblock-Staaten ihrerseits zu Einhaltung von Grundrechten verpflichtet. Doch erst nachdem Michail Gorbatschows in der Sowjetunion Perestroika und Glasnost eingeführt hat, kann Brandt 1989 am Tag nach dem Mauerfall sagen: "Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört."
Stand: 12.08.2015
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