Als Max Récamier Ende der 1960er Jahre für das Internationale Rote Kreuz ein Hilfsteam für Biafra zusammenstellt, hat der Hals-Nasen-Ohren-Arzt schon einige Auslandseinsätze in Krisengebieten hinter sich. Doch was der Franzose in der abtrünnigen nigerianischen Provinz Biafra sieht, übertrifft alles bisher Erlebte: Durch die Blockade der Regierungstruppen verhungern Hunderttausende, darunter viele Kinder.
"Wir mussten die Kinder aussortieren, denen es schon zu schlecht ging, um sie erfolgreich behandeln zu können. Wir mussten sie einfach liegen lassen", beschreibt Récamier seinen Alltag unter den Hungernden. Zudem war die Hilfe schlecht organisiert. "Wir hatten kein Material, kaum Medikamente", erinnert sich der Arzt, der mit einem Rucksack und seinem Stethoskop nach Nigeria gereist war.
Das Schweigen brechen
Kurze Zeit später sind französische Ärzte in Ostpakistan, dem heutigen Bangladesch, nach verheerenden Überschwemmungen für das Internationale Rote Kreuz im Einsatz. Nach ihrer Rückkehr sind die Mediziner überzeugt, dass man für künftige Einsätze besser vorbereitet sein sollte. "Wir haben dann die alten Biafraner zusammengetrommelt und die, die in Bangladesch geholfen haben, und haben zusammen 'Ärzte ohne Grenzen' gegründet", beschreibt Mitgründer Récamier die Anfänge der am 20. Dezember 1971 gegründeten Hilfsorganisation.
Die neuen "Ärzte ohne Grenzen" wollen vor allem mit einem Statut brechen: Sie wollen nicht länger schweigen. Denn nach Einsätzen mit dem Internationalen Roten Kreuz dürfen sie nicht über ihre Erlebnisse sprechen, das belastet viele. "Unsere Idee war, dass wir unabhängiger sein müssten, autonomer, um effizienter arbeiten zu können", so Récamier. Genauso wie Skalpell und Medikamente sind die öffentliche Meinung und die Presse, die sie mobilisiert, Werkzeuge der humanitären Hilfe. Behandeln und Bezeugen werden zum Leitspruch für die Hilfsorganisation.
Friedensnobelpreis für Einsatz der Ärzte
Mitte der 1970er Jahre werden die "Ärzte ohne Grenzen" durch ihren Einsatz in Beirut bekannt. Mehrere Teams leisten in den umkämpften Stadtvierteln medizinische Hilfe. "Und zwar wirklich sozusagen quer durch alle gesellschaftlichen, religiösen Gruppen", erklärt Ulrike von Pilar, langjährige Geschäftsführerin der Deutschen Sektion von "Ärzte ohne Grenzen". Die Mediziner riskieren oft ihr Leben, um Kranken und Verletzten zu helfen. "Wir gehen dorthin, wo sonst keiner hingehen will", lautet die Devise bis heute.
Die engagierten Ärzte und Krankenschwestern werden zum Vorbild und wachsen zu einer der weltweit größten Hilfsorganisationen. Heute sind rund 30.000 Mitarbeiter in mehr als 60 Ländern aktiv: in Afghanistan und Syrien ebenso wie in Katastrophengebieten wie Haiti oder den Philippinen. Für ihr Engagement bekommen die "Ärzte ohne Grenzen" 1999 den Friedensnobelpreis.
Programmtipps:
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 20. Dezember 2016 ebenfalls an die Gründung von "Ärzte ohne Grenzen". Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 21.12.2016: Vor 80 Jahren: Emigranten rufen zu "Volksfront" gegen Hitler auf