Schon Hippokrates hat Depressionen im Altertum beschrieben - und genauso lang suchen Ärzte ein Heilmittel gegen die Melancholie. Über die Jahrhunderte werden Depressive an Ketten gelegt oder auf Drehmühlen geschnallt. Peitschen, Dauertropfbäder und Kanonendonner kommen zum Einsatz. Es werden Nesselschnüre unter die Kopfhaut gezogen, Elektroschocks und Opium verabreicht.
Die Vorstellung, dass eine chemische Substanz Verhalten und Gemüt eines Patienten beeinflussen kann, scheint lange Zeit abwegig - bis 1953 eine chemische Verbindung namens Chlorpromazin die Psychiatrie revolutioniert, ein Mittel zur Behandlung von schizophrenen Patienten.
"Nun kommt die Firma Geigy, heute Novartis, ins Spiel, die als Entwickler des ersten Antidepressivums gilt", erklärt der Arzt Peter Ansari, der seit Jahren über Depressionen forscht. Weil Chlorpromazin ein großer wirtschaftlicher Erfolg ist, will das Unternehmen ebenfalls ein Neuroleptikum zur Behandlung von Schizophrenen auf den Markt bringen. "Die Forscher haben also in ihren Kellern geschaut, ob sie noch passende Substanzen haben."
Ein Patient verlässt die Psychiatrie singend auf dem Fahrrad
Der Schweizer Psychiater Roland Kuhn testet für Geigy Substanzen in der Psychiatrischen Klinik in Münsterlingen, allerdings ohne Erfolg. Er macht jedoch eine Zufallsentdeckung: Die Testsubstanz G 22355 scheint depressive Symptome zu lindern. So verlässt ein Patient die Psychiatrie singend auf dem Fahrrad.
Daraufhin verordnet er 300 depressiven Patienten G 22355 und beobachtet bei 40 von ihnen eine Besserung. Das sind nur zwölf Prozent. Doch das Ergebnis reicht ihm, um am 6. September 1957 auf dem Weltkongress der Psychiatrie in Zürich das erste Antidepressivum vorzustellen: Imipramin, ein modernes Medikament zur Behandlung von Depressionen. "Jeder kannte Depressionen. Aber dass es ein Mittel geben könnte, das die individuellen Verirrungen und Verwirrungen auflösen kann, das war für viele unvorstellbar", sagt Peter Ansari.
Imipramin hemmt die Rückaufnahme von Monoaminen im Zentralnervensystem. Die Konzentration der Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin steigt im Plasma an - das sind Botenstoffe, an denen es Depressiven mangelt.
1,4 Milliarden Tagesdosen Antidepressiva pro Jahr
5,3 Millionen Deutsche erleiden nach Angaben des Robert-Koch-Instituts in einem Zeitraum von zwölf Monaten eine unipolare Depression. Im Gegensatz zur manisch-depressiven Erkrankung besteht sie nur aus depressiven Phasen. Pro Jahr werden 1,4 Milliarden Tagesdosen Antidepressiva in Deutschland verabreicht. Laut internationalem Klassifikationssystems ICD-10 sind die Hauptsymptome Traurigkeit, Interessenverlust oder Antriebsschwere.
"Die Depression ist eine Erkrankung, die das Gehirn betrifft. Das ist ein Stress für den ganzen Körper. Alle Körperfunktionen sind verändert. Das Risiko, sich etwas anzutun, ist dramatisch erhöht", sagt Professor Ulrich Hegerl von der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.
Imipramin wird bis heute verordnet
Der ersehnte Nobelpreis bleibt Roland Kuhn für seine revolutionäre Entdeckung jedoch verwehrt. "Er hat in seiner kleinen psychiatrischen Anstalt Versuche gemacht und sich nicht für die aktuelle Forschung interessiert", sagt der Arzt Peter Ansari. "Er hat das Medikament ohne Doppelblindversuche, ohne Studien, Ziel und Statistik getestet und das wirkte auf die Forscher merkwürdig", sagt Ansari.
Dennoch: Imipramin wirkt bei vielen Patienten und wird zum Prototypen für eine ganze Reihe an Psychopharmaka, den sogenannten Trizyklika. Wegen Nebenwirkungen wie Seh-, Kreislauf- und Herzrhythmusstörungen ist es heute nicht mehr das erste Mittel der Wahl. Bei schweren oder chronischen Fällen wird es aber immer noch verordnet.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 6. September 2017 ebenfalls an das erste Antidepressivum. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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