Seit drei Wochen ist die amerikanische Brigg "Dei Gratia" auf dem Atlantik unterwegs, um eine Ladung Petroleum von New York nach Gibraltar zu bringen. Mitten zwischen den Azoren und Portugal sichtet die Mannschaft am 4. Dezember 1872 ein fremdes Schiff unter Segeln, das direkt auf sie zuhält.
Durch sein Fernglas erkennt Kapitän Morehouse: Es handelt sich um den auch aus New York kommenden Schoner "Mary Celeste". Alles scheint in Ordnung, nur an Bord ist niemand zu sehen und die Segel flattern seltsam im Wind. Morehouse schickt daraufhin ein Ruderboot zur "Mary Celeste". Noch weiß er nicht, dass er es einem der mysteriösesten Ereignisse der Seefahrt zu tun hat.
Meuterei auf der "Mary Celeste"?
Zwar ist die "Mary Celeste" in bestem Zustand und die Ladung von 1.701 Fässern Industriealkohol ist anscheinend vollständig. Die normalerweise geschlossenen Ladeluken aber stehen offen, die Betten in den Kojen sind noch ungemacht, das Beiboot fehlt und von der Besatzung fehlt jede Spur. Das alles, so meint heute der Buchautor und Seefahrtexperte Eigel Wiese, lässt nur den Schluss zu: "Das Schiff wurde offenbar in großer Eile verlassen."
Kapitän Morehouse lässt das Geisterschiff von einigen Männern nach Gibraltar segeln. Dort untersucht ein Staatsanwalt den Fall und stellt fest: "Die 'Mary Celeste' war stabil, kräftig und in seetüchtigem Zustand. Sie war gut mit Wasser und Nahrungsmitteln versorgt." Da sich kein triftigerer Grund findet, sie freiwillig zu verlassen, verdächtigt der Staatsanwalt die Besatzung. Sie soll den Kapitän Benjamin Briggs sowie dessen mitreisende Frau und Tochter im Vollrausch getötet haben und dann auf einem anderen Schiff geflohen sein.
Verpuffungen als Panik-Ursache?
Unter den abergläubischen Seeleuten jener Zeit kursieren bald die seltsamsten Theorien: Haben Riesenkraken die Besatzung Mann für Mann von Bord geholt? Sind Außerirdische für ihr Verschwinden verantwortlich? Waren Piraten am Werk? Das aber ist unwahrscheinlich, denn außer der Ladung wurden auch noch alle Wertsachen auf der "Mary Celeste" entdeckt. Nur einige nautische Geräte und das Beiboot fehlen. Der See-Experte Wiese ist sich heute sicher, dass etwas auf dem Schiff panische Angst bei der Besatzung ausgelöst haben muss.
Das könnte mit der Ladung der "Mary Celeste" zusammenhängen. Bei einer Prüfung der 1.701 Alkohol-Fässer wird damals nämlich festgestellt, dass neun nicht mehr vollständig gefüllt sind. "Alkohol kann verpuffen und Verpuffungen hinterlassen kaum Spuren, sind aber lautstark und erzeugen kurze Stichflammen", erklärt Wiese. "Man muss sich vorstellen, dass Lukendeckel hochgeflogen und Stichflammen rausgeschlagen sind." Deshalb habe man wohl befürchtet, das Schiff werde in kürzester Zeit in die Luft fliegen.
Bei Versicherungsbetrug gesunken
Für ein Buch hat Eigel Wiese alle noch auffindbaren Unterlagen über die "Mary Celeste" durchforstet. So kommt er zu der Erkenntnis, dass Kapitän Briggs im Beiboot die einzige Rettung vor einer Explosion gesehen und deshalb das Schiff mit seiner Familie und allen Männern verlassen hat. Das Boot wurde aber abgetrieben und schließlich vom Ozean verschluckt, während die verlassene "Mary Celeste" als Geisterschiff weitersegelte.
Ob es sich tatsächlich so zugetragen hat, bleibt für immer ein Geheimnis der See. Zwölf Jahre fährt die "Mary Celeste" nach jener mysteriösen Reise noch über den Atlantik und wechselt dabei, als Unglücksschiff verrufen, 16 Mal den Besitzer. Im Januar 1885 läuft sie bei schönstem Wetter vor Haiti auf ein Riff und sinkt. Schiff und Ladung sind hoch versichert, unter Deck liegen aber nur wertlose Gegenstände. Der Versicherungsbetrug fliegt auf und bringt den letzten Eigner der "Mary Celeste" um sein gesamtes Vermögen.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 4. Dezember 2017 ebenfalls an die "Mary Celeste". Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 05.12.2017: Vor 35 Jahren: Erster Kongress der Arbeitslosen-Initiativen endet