Wieder steht dieser lange, dürre Mann auf dem Bürgersteig und starrt auf den kleinen Zeitungsladen an der Ecke gegenüber. Es ist später Abend in New York City im Herbst 1941. Die Greenwich Avenue und die Seventh Avenue treffen hier im spitzen Winkel aufeinander.
Edward Hopper kann durch ein Schaufenster an der Seventh in den Laden hineinsehen. Und durchs andere Schaufenster wieder hinaus auf die Greenwich dahinter.
Der Maler, schon 59 Jahre alt, saugt die Bilder auf wie immer: Die Zigarettenreklame an der Hausfront, das Licht auf dem Gehweg, die Schatten. In Hoppers Kopf entsteht eines der berühmtesten Gemälde der Welt: Nighthawks.
Inspiration aus der Nachbarschaft
"Alle diese Ecken in seiner Nachbarschaft inspirieren Hopper. Er betrachtet sie sehr genau. Und dann geht er in sein Atelier zurück am Washington Square und lässt die Ansichten verschmelzen zu einem neuen Bild", sagt Carter Foster, Kurator am Whitney Museum of American Art.
Hopper, geboren 1882 bei New York am Hudson River, malt detailgetreu, gleichzeitig verallgemeinert er. Das macht seine Arbeit so unverwechselbar.
Nighthawks von 1942 zeigt vier Gestalten in einem Diner bei Nacht. Keiner spricht. Ein Gast steht abseits, das Pärchen sitzt dicht beieinander und doch weit voneinander entfernt. "Das ist die charakteristische Stimmung, die von Hoppers Gemälden ausgeht: dieses Gefühl der Isolation", sagt Barbara Haskell, Kuratorin am Whitney Museum.
Hopper stellt den modernen Menschen dar – seine Einsamkeit und innere Unruhe – indem er Hotels zeigt, die Eisenbahn, einen Kinosaal, eine Tankstelle an der Straße. "Die Mobilität steht als Synonym für den modernen Menschen. Er befindet sich auf dem Weg von Ort A nach Ort B. Er ist nicht an dem Ort, wo er eigentlich sein will", sagt Ulrich Wilmes, Kurator im Münchener Haus der Kunst.
Seine Frau verhilft ihm zum Durchbruch
Erst sehr spät, mit über 40 Jahren, wird er bekannt – weil er eine Frau kennenlernt. Josephine, auch sie eine Malerin und viel bekannter als er, verhilft ihm zum Durchbruch. Kaum jemand hat bis dahin seine Gemälde gesehen. Jo empfiehlt ihn einem Kurator des Brooklyn Museum – und der kauft sogar ein Gemälde. Es ist das erste nach fast zehn Jahren.
Spätestens 1942, mit Nighthawks, wird er berühmt. "In den USA hat Hopper einen Status wie Rembrandt es für die niederländische Identität hat. Er ist der amerikanische Maler des 20. Jahrhunderts", sagt Heinz Liesbrock.
Ein großer Schweiger
Er ist ein großer Maler und ein großer Schweiger. "Seine Frau hat er zur Verzweiflung getrieben, weil er so wenig mit ihr gesprochen hat, sondern gebrütet in seiner inneren Welt", sagt der Kunsthistoriker Heinz Liesbrock.
Jo gibt für ihn die eigene Karriere auf und verbringt die meiste Zeit in Hoppers kleinem Atelier am Washington Square. 43 Jahre bleiben sie zusammen. Die Atmosphäre im Atelier muss sich angefühlt haben wie in Hoppers Bildern: Zwei Menschen sind nah beieinander und doch isoliert. Was kann eine Frau erwarten von einem Mann, der immer nur das eine will: "Ich würde am liebsten pures Sonnenlicht malen. Nur das Licht."
"Glücklich und sehr schön im Tod"
Edward Hopper stirbt, wie er fast 85 Jahre gelebt hat: still, ganz für sich. Jo protokolliert in ihrem Tagebuch: "15. Mai 1967. Als die Stunde schlug, war er zu Hause, hier in seinem großen Stuhl im großen Studio. Kein Schmerz, kein Geräusch. Glücklich und sehr schön im Tod, wie ein El Greco. … Eine Minute, und er war fort."
Jo überlebt den Verlust keine zehn Monate.
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 15. Mai 2017 ebenfalls an Edward Hopper. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 16.05.2017: Vor 300 Jahren: Verhaftung von Voltaire